Heilendes Blau

Ein chemischer Verwandter eines Lebensmittelfarbstoffs könnte bei Rückenmarksverletzungen das Ausmaß der Schädigung begrenzen.

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Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler

Ein chemischer Verwandter des blauen Lebensmittelfarbstoffs, der unter anderem M&Ms und Sportlergetränken ihre Farbe verleiht, könnte bei Rückenmarksverletzungen das Ausmaß der Schädigung begrenzen. Wie Forscher um Maiken Nedergaard von der University of Rochester in der aktuellen Ausgabe des Fachjournals PNAS schreiben, verhinderte die Farbstoff-Variante bei Laborratten die verheerende Entzündungsreaktion, die normalerweise nach der Verletzung auftritt: Sie bewirkt das Absterben von Nervenzellen und verursacht oft viel größere Schäden als das ursprüngliche Trauma.

Der Grund für das Absterben der sogenannten Spinalneurone ist, dass der Körper den Verletzungsort mit der mehr als hundertfachen Menge des – an sich lebenswichtigen – Stoffes ATP regelrecht überflutet. ATP beliefert Zellen normalerweise mit Energie, bewirkt im Rückenmark allerdings selbst bei gesunden Nervenzellen eine überschießende Stressreaktion: Die Neurone feuern so stark und so lange, bis sie schließlich vergehen.

Wissenschaftler suchen deshalb seit einigen Jahren nach Substanzen, mit denen das Andocken der ATP-Moleküle an die Spinalneurone verhindert werden kann. Sie sollten gleichzeitig über die Blutbahn verabreicht werden können, weil "kein Arzt eine Nadel in das Rückenmark stechen will, das gerade schwer verletzt wurde", sagt Nedergaard.

Erste Versuche mit der oxidierten Form von ATP waren an dieser Vorgabe gescheitert: Zwar bewirkte die Substanz, wenn sie den Ratten gleich nach der Verletzung ins Rückenmark gespritzt wurde, dass die Nager einen Großteil ihrer Beweglichkeit wiedergewannen und zum Teil – wenn auch wacklig – wieder laufen konnten. Wurde das oxidierte ATP aber über das Blut verabreicht, traten gefährliche Nebenwirkungen auf.

Dann stieß Nedergaard auf den Farbstoff Brilliant Blue G (BBG), der bei Versuchen mit Ratten ähnlich gute Resultate zeigte wie das oxidierte ATP, wenn es 15 Minuten nach der Verletzung verabreicht wurde: Nager, die die Substanz erhalten hatten, erholten sich viel besser und konnten zum Teil wieder laufen, während ihre Artgenossen ohne BBG-Behandlung gelähmt blieben. Darüber hinaus kann BBG auch die Blut-Hirn-Schranke passieren, kann also über die Blutbahn verabreicht werden. Als einzige Nebenwirkung trat bei den Versuchstieren eine Blaufärbung der Haut über der Verletzung sowie an Ohren, Nase und Pfoten auf.

"Wir haben derzeit keine effektive Behandlung für Patienten mit einer akuten Rückenmarksverletzung. Wir hoffen, dass diese Forschung zu einer praktikablen, sicheren Therapie führt die den Patienten direkt nach der Verletzung verabreicht werden kann – um die sekundären Schäden, die sonst zu erwarten sind, zu begrenzen", sagt Nedergaards Kollege Steven Goldman.

Trotz der viel versprechenden Resultate versuchen die Forscher, übertriebene Erwartungen zu dämpfen: Die neue Methode müsse sich erst in weiteren Tierversuchen bewähren, bevor sie auch am Menschen getestet werden kann – vom klinischen Einsatz sei man noch Jahre entfernt. Ein Vorteil dürfte aber sein, dass Brilliant Blue G sowohl in seiner Struktur als auch in seiner chemischen Funktion mit dem bereits seit 1982 zugelassenen Lebensmittelfarbstoff "FD&C blue dye No. 1" übereinstimmt. (bsc)