Kommentar: Lustige TikTok-Videos werden die Politik nicht retten

Junge Menschen begeistern sich nicht wegen lustiger Videos auf Social Media für Politik. Viel wichtiger ist es, sie ernst zu nehmen, meint Anika Reckeweg.

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TikTok-Logo auf Smartphone in Nahaufnahme

Die Entscheidung für einen Account des Bundeskanzlers auf TikTok steht in der Kritik.

(Bild: XanderSt/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
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Olaf Scholz ist nun also auf TikTok. Die Videoplattform steht seit Jahren massiv in der Kritik. Dennoch überwiegt für den Kanzler und das Bundespresseamt, dort zu sein, wo die Jugend sich aufhält. Eine Entscheidung mit zweifelhaftem Signal. Egal, wie intensiv die Beteiligten betonen, sich für guten Datenschutz einzusetzen: Teil einer Plattform zu sein, die diesen mit Füßen tritt, untergräbt diese Beteuerungen. Und relativiert im schlimmsten Fall die Tragweite der Kritik.

Die Vorwürfe gegen TikTok wiegen schwer: Angemessener Jugendschutz werde nicht angewendet, der Datenschutz sei eine Katastrophe, Falschinformationen nutzten den Schnellstrom des Algorithmus, die Plattform instrumentalisierte User und Userinnen in den USA sogar für die eigenen Interessen. Die Lieblingsorte der Zielgruppe aufzusuchen, ist schön und gut. Desinformation ein verlässliches Angebot entgegensetzen zu wollen, ist ebenfalls ein sinnvolles Anliegen des Kanzlers und des Bundespresseamts (BPA), das den Kanal betreibt. Mit der Aussage, allein die Plattform sei verantwortlich für ihre Fehltritte, winden sich BPA und Kanzler jedoch aus einer Verantwortung: der Vorbildfunktion des Kanzlers als Repräsentant der Bürgerinnen und Bürger.

"Wir dürfen diese neuen Informationsräume nicht nur bestimmten Akteuren überlassen, sondern müssen selbst präsent sein", sagte Regierungssprecher Steffen Hebestreit. Wer schon einmal auf TikTok unterwegs war, hat vielleicht erfahren, wie erschreckend schnell der Algorithmus ein Thema als relevant erkennt und einen immer tiefer in eine Bubble hineinzieht. Wer in dieser erst einmal gefangen ist, kann sich daraus nicht einfach wieder befreien. Dementsprechend ist fraglich, ob das Angebot des Kanzlers nicht eher jene Menschen erreicht, die ohnehin in ihrer Rezeption etwas breiter aufgestellt sind. Und die wären auf anderem Wege besser abgeholt: mit einer Politik, die die Bedürfnisse junger Menschen auch inhaltlich wahrnimmt und ihnen Rechnung trägt.

Weiter ist da der Datenschutz. Ein Gut, dessen Wert meist erst deutlich wird, wenn Kriminelle es missbrauchen. Hebestreit zieht die Karte der Freiwilligkeit, niemand müsse sich anmelden, die Inhalte gebe es auch anderswo. Ein Ansatz, mit dem es sich das Bundespresseamt extrem leicht macht. Wer nicht will, kann ja woanders schauen. Das mag stimmen. Die Vorbildfunktion des Kanzlers lässt Hebestreit dabei außen vor.

Ein Kommentar von Anika Reckeweg

Schon immer von der Schwierigkeit geplagt, sich für einzelne Dinge entscheiden zu müssen, hat Anika Reckeweg ihre Passion in der Vielfältigkeit des Journalismus gefunden. Hier fehlt ihr nicht der Schwerpunkt, hier ist sie Generalistin. Zuerst als Springerin und crossmedial im Lokalen in NRW unterwegs, kam die gebürtige Ostwestfälin 2024 zu heise online und ergänzte das "irgendwas mit Medien" um "und irgendwas mit Technik": eine großartige Symbiose zweier Leidenschaften.

Ein Auftritt staatlicher Stellen relativiert die Kritik an TikTok. Insbesondere jungen Menschen, die sich wenig bis gar nicht mit dem Thema Datenschutz und wohl noch weniger mit dem Thema Jugendschutz auseinandergesetzt haben, sendet er ein fatales Signal: Legitimation. Wenn sogar der Bundeskanzler dort unterwegs ist, kann es ja nicht so schlimm sein. Und wie wichtig ist Datenschutz dann überhaupt? Wir sind ohnehin schon zu sehr gewohnt, statt mit Geld mit unseren Daten zu bezahlen. Das "TeamBundeskanzler" mag einen Teil davon durch ein eigenes TikTok-Diensthandy lösen. Doch was ist mit den Smartphones der Userinnen und User?

Die Präsenz auf einer Plattform unterstützt sie unweigerlich. Auch wenn der Regierungssprecher betont: "Auf sozialen Medien wie TikTok als Bundesregierung aktiv zu sein, bedeutet gerade nicht, sich mit Geschäfts- und Datenschutzpraxis der jeweiligen Unternehmen einverstanden zu erklären. Im Gegenteil setzen wir uns weiterhin für eine möglichst datenschutzfreundliche Ausgestaltung der sozialen Medien ein." Das funktioniert nur leider nicht, indem man die Spielchen der großen Player mitspielt. Da zählen Taten mehr als Worte.

Vor dem Verwaltungsgericht Köln liegt unterdessen die Klage gegen ein Verbot der Facebook-Seite der Bundesregierung durch den Bundesdatenschutzbeauftragten. Die Frage nach einer alternativen Möglichkeit, die Zielgruppen zu erreichen, falls sich ein solches Verbot auch auf TikTok auswirken sollte, wollte eine Sprecherin des Bundespresseamts übrigens heise online gegenüber nicht beantworten: "Wir bitten um Verständnis, dass wir uns zu hypothetischen Fragen nicht äußern."

Mit dem Kanzler auf TikTok kommt der Berg also zu den Wandernden, wenn diese – angeblich – nichts von ihm wissen wollen. Die immerwährende Frage "Wie erreicht Politik junge Menschen?" wird aber nicht durch Olaf Scholz' Aktentasche gelöst. Viel wichtiger ist eine Politik, die jüngere Bürger und Bürgerinnen ernst nimmt.

(are)