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Was war. Was wird.

Identität. Ja. Hätte was, findet Hal Faber. Aber manchem scheint Identität nur noch aus Ortungsdaten und Kreditkarteninfos zu bestehen. Da wird noch jede Utopie zwischen den Fronten zerrieben.

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Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

Was war.

*** Siehst Du Dich wirklich selbst im Spiegel, im TV, in den Magazinen? Identität, Individualität, Persönlichkeit, alles das, was in Frage zu stehen scheint, in dieser digitalen Welt, das stellte sie mit ihrer Band auch schon in Frage, als noch kein Mensch in der Öffentlichkeit von diesem Internet redete, das an so vielem Schuld sein soll. Das Subversive ist aber nicht das Gejammer über den Identitätsverlust, sondern die Kritik an einer "übergeschnappten Konsumphantasie" – um ihre materielle Substanz nutzbar zu machen, um Veränderung nicht als Dystopie verkümmern zu lassen. Das dürfen wir uns nun aber nicht mehr von Poly Styrene erwarten, die Anfang der Woche starb. Es scheint, als gäbe eine Generation den Löffel ab, bevor diese Generation ihre Kritik auch nur halbwegs in Worte fassen, geschweige denn ihre Utopien formulieren konnte.

*** Andere Lieder. Vorwärts und nicht vergessen, worin unsere Stärke besteht!. Früher, als es noch für uns Kinder Pflicht war, beim Kampftag der Arbeiterklasse zu marschieren und zu singen, wurde aus der "großen Näherin" die "große Nährerin". Die gute Erde, die das Volk ernährt, war aber nicht gemeint, das wäre mehr der Maianfang auf dem Hausberg von Hannover, dem verhexten Brocken. Brechts große Näherin läuft heute entsexualisiert als Globalisierungseffekt herum und die von ihm beklagte Zwietracht trägt einen Namen: Sarrazin. Kampftag der Arbeiterklasse? Wie war das noch mit den Versuchen des US-Präsidenten Eisenhower, der im Kalten Krieg anno 1958 per Gesetz aus dem Labor Day den Law Day machte, um den Commies den Wind aus den Segeln zu nehmen? Ein Jahr später war es dann gar der Loyalty Day, der Tag, an dem offiziell die Amerikanisierung gefeiert wurde.

*** Loyalty Day ist eigentlich ein passender, zeitgemäßer Name für einen Feiertag, so in Ergänzung zu all den Loyalty Cards, mit denen punktesammelnd das Kaufverhalten aufgezeichnet wird. "Haben Sie eine Deutschlandcard?" ist die tägliche Frage an der Kasse, die uns daran erinnert, dass wir in Deutschland sind. Loyalty ist das, was den Käufer von TomTom-Navis auszeichnet, dessen überhöhte Geschwindigkeit der Polizei Hinweise darauf gibt, wo Radarfallen dem Staat besonders viel Einnahmen bringen. Wie wäre es mit dem Loyalty-Add-On der automatischen Meldung nach Flensburg, komplett mit übersichtlicher Punktetabelle des ach so transparenten Systems. Echte Loyalty zeigen auch die Apple-Nutzer nach dem Locationgate oder die Spieltreibenden im Playstation Network. Von den Androiden ganz zu schweigen, die vor lauter Loyalität bald ihren Zahlungsobulus in den Klingelbeutel von Google werfen werden, weil sie doch soooo praktisch und ungemein lebenszeitsparend ist, diese Gurgelei und all die Location Based Awareness. Bekanntlich besonders loyal sind wir bei der Wahl der Mobilfunkprovider, die ihre Zellendaten an die Navi-Betrieber verkaufen, nur anonym und zu Stau-Forschungszwecken.

*** Vorwärts und nicht vergessen, tralala. Worin besteht eigentlich unsere Stärke? "Wessen Morgen ist der Morgen?" Verschwendet noch jemand Gedanken an die Kämpfer vom Haymarket, an den 8-Stunden-Tag, mit dem es begann, mal abgesehen von den Unverbesserlichen? Für uns hält die Zukunft keinen 6-, keinen 5-, keinen 2-Stunden-Tag bereit, weil menschliche Arbeit mit dem Fortschritt der künstlichen Intelligenz komplett freigesetzt wird. Eine Zeitschrift, die ein Pro und Contra zu dieser Meinung publizieren wollte, musste überrascht feststellen, dass in dieser Frage Einigkeit unter den Forschern herrscht. Wenn der technische Fortschritt so weit ist, dass whole brain emulations möglich werden, wird der Preis für die "Bems" drastisch fallen, unter das Subsistenzniveau der Menschen. Zur Vollbeschäftigung der Bems gesellt sich der arbeitslose Mensch. Passend zu dieser These hat die Frankfurter Allgemeine Zeitung eine lange E-Mail-Konversation zweier Romantiker abgedruckt, auf die hier und heute noch nicht verlinkt werden kann. Daniel Suarez, der Autor der pessimistischen Thriller "Daemon" und "Freedom", mailte mit Frank Rieger, dem Mitautor des pessimistischen Resümees "Datenfresser" über Gott und die Welt. Widerstand gegen die großen Systeme kommt aus dem Kleinen, mit neuen Wirtschaftformen, dem Fabbing von Waren anstelle der asiatischen Billigproduktion, mit neuen digitalen Währungen, Augmented Reality und Open Source, mit einem System, "das die etablierten Mächte samt ihren selbsternannten Torwächtern und Lobbyisten eher umginge als stürzte".

*** In den Büchern von Suarez spielt die funktionelle Magnetresonanztomographie (fMRT) eine wichtige Rolle. fMRT-Brainscanner prüfen die Absichten der Menschen, ob sie Gutes im Schilde führen oder den Umsturz des Master Control Program wollen, das schlicht Dämon heißt. Big Brother schaut in die Gehirne. Das ist etwas unlogisch – ein ordentlicher Big Brother würde im Handumdrehen Gehirne abschalten und auf die erwähnten "Bems" umstellen –, aber schwer heroisch. "Sollten wir eine Bill of Rights für das 21. Jahrhundert schaffen? Könnte solch ein Dokument das Recht sichern, dass kein menschliches Gehirn ohne gerichtlichen Beschluss durchsucht werden darf? Und sollten wir eine Klausel hinzufügen, die besagt, dass alle Lebewesen sich selbst gehören?" Eine weiteres Recht, dass wir Menschen uns sichern müssten, wäre es, nicht nicht als "Bems" geklont zu werden, vielleicht im Austausch gegen das Recht der Maschinen, nicht abgeschaltet zu werden. Wie war das noch mit den Roboter-Rechten? Abschalten, wenn das Fleisch Lust zeigt? Wer kennt nicht den Dialog von Ghost in the Shell bei der Frage nach künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence, A.I.) samt der Antwort: "Incorrect. I am not an A.I. My codename is Project 2501. I am a living thinking entity who was created in the sea of information." Sie sind längst unter uns. Wer mit einem Android-Fon über Bielefeld nach Paderborn fährt, kann mal nachschauen, was die Location Awareness nicht gespeichert hat.

*** Es ist schon bemerkenswert, was für seltsame, altertümlich erscheinende Menschenbilder in all den Debatten über das sich verändernde Denken, über Kontrollverluste und Machtstrukturen in der digitalisierten Welt auftauchen, und das von allen beteilitgten Seiten. Man bekommt den Eindruck, dass das Erschrecken, das Veränderung für Viele bedeutet, die Lösung nur noch in einem für die armen unmündigen Bürger sorgenden Staat sehen lässt oder in der schlichten Hinnahme der Dystopie als Realität. Nichts von Veränderung, die Identität stiftet. Keine Utopie, nirgends. Keine Utopie der Identität. Keine Utopie der Veränderung. Keine Zukunft, nirgends? Ach Quatsch. Sie zu formulieren aber scheint zwischen den Dystopien der Unmündigkeit und des Fatalismus ein recht heroisches Unterfangen.

Was wird.

Komm lieber Mai und mache die Bäumelein wieder grün, jaja, mit der Drohung vor dem schwangeren Lottchen war dies das richtige vorgeschriebene Mai-Lied für den Schulunterricht in Preußen. Und Mozart hat es auch noch dahin geklimpert, der Jüngling, von dem heute vor vielen, vielen Jahren anno 1786 zu Wien die erste große Oper, die Hochzeit des Figaro uraufgeführt wurde. Was nähert sich uns? Still, Still?

Ja, ja, der Zensus 2011 will möglichst geräuscharm über die Bühne gehen. Viele Besuchsterminbriefe der Erheber sind an diesem Wochenende verschickt worden und die Erhobenen rätseln: Wohl selten ist ein derart teures, 176 Millionen Euro kostendes staatliches Unterfangen von so wenig Aufklärung begleitet worden, wie diese Volkszählung. Keine Aufklärung, ein paar hübsche Bilder und überall der drohende Subtext, dass sich kein Würmchen entziehen kann, wenn der Erheber naht. Die Zählung selbst ist nur das Finale furioso ma non Troppo in einer konzertierten Aktion, bei der seit Monaten viele Daten zusammengeführt werden. Das Ganze wird dem zu zählenden Volk als Ausdruck staaltlicher Plan-Achtsamkeit verkauft, denn natürlich müssen Kitas, Schulen und die hübschen Klon-Studienplätze entlang des kommenden Bedarfes ausgerichtet sein. Das sieht man besonders gut am Beispiel von Stuttgart 21, wo ausgerechnet die Bahnhofsbefürworter mit Daten hantieren, die 20 Jahre auf dem Buckel haben. Das nennt man Planungsgenauigkeitsunschärferelation.

Besonders hübsch ist die Argumentation mit der europäischen Richtlinie 736/2008. Als diese Richtlinie debattiert wurde, gab es großen Streit um die freiwilligen Angaben über "das Sexualleben, die Höhe der Monatsmiete, Computerkenntnisse oder die Lese- und Schreibkompetenz". Was ist davon im deutschen Zensus übrig geblieben, übrigens gegen den Widerstand der Statistiker? Genau: die Pflichtfrage nach der Zugehörigkeit zu einer öffentlich-rechtlichen Religionsgemeinschaft, die nach EU-Vorgaben nicht notwendig ist. Daneben soll auch noch die Religionszugehörigkeit im Fragebogen zum Ausdruck gebracht werden. Sie ist ausdrücklich freiwillig, soll aber angeblich den Stolz ausdrücken, sich zu seiner Religion bekennen und damit mit diesem unseren Staat identifizieren zu können. Darauf kann es beim Ausfüllen des Fragebogens selbst für Atheisten nur eine Antwort geben: all den islamischen Krempel ankreuzen, dieses sunnitisch, schiitisch und alevitische Zeug. Schützen wir unsere deutschen Kopftuchmädchen vor dem Irrsinn von statistikphilen Politikern wie Sarrazin, die gierig auf die neuen, ach so objektiven Zahlen warten. Wer lieber lachen will, sei auf die Daten-Schwindelei namens ELENA verwiesen, wo große öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten die Meldungen eingestellt haben, von privatwirtschaftlichen Unternehmen ganz zu schweigen.

Tralala, "Der Mai ist gekommen, die Bäume schlagen aus" ... "Herr Wirt, Herr Wirt eine Kanne blanken Wein". Lall. Einer geht noch, die Krippe weghauen. Zzzzählung? (jk)