EU-Kommission will Millionen Plattformarbeiter aus Scheinselbstständigkeit holen

In der EU gibt es schätzungsweise 28 Millionen Plattformarbeiter, vor allem selbstständig tätig. Bis zu 4,1 Millionen könnten einen anderen Status bekommen.

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(Bild: EU-Kommission)

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Die EU-Kommission will viele Menschen arbeitsrechtlich besser stellen, die über digitale Arbeitsplattformen beschäftigt werden. Sie hat dazu am heutigen Mittwoch eine neue Richtlinie vorgeschlagen. Die Kommission meint Personen, die beispielsweise für Lieferdienste oder Ride-Hailing arbeiten, Mikroaufgaben wie KI-Training oder Datenkodierung erledigen, aber auch hochqualifizierte Jobs wie Architekturdesign, Übersetzungen oder IT-Entwicklung.

Die von der EU-Kommission zusammen mit dem Europäischen Parlament vorgelegte neue Richtlinie "on improving working condition in platform work" " (PDF) soll sicherstellen, dass Plattformarbeiter die ihnen zustehenden Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen beanspruchen können, also einen Mindestlohn, Tarifverhandlungen, geregelte Arbeitszeiten und Gesundheitsschutz, bezahlten Urlaub und verbesserten Zugang zum Schutz vor Arbeitsunfällen, Leistungen bei Arbeitslosigkeit und Krankheit sowie beitragsabhängige Altersrente.

Um den Status als "Arbeitnehmer/in" feststellen zu können, hat die EU-Kommission einige Kriterien festgelegt. Zwei davon müssen erfüllt sein, damit ein Plattformanbieter als Arbeitgeber gilt:

  • die Plattform hat eine Obergrenze der Vergütung festgelegt;
  • sie hat der beschäftigten Person verbindliche Regeln zu dessen Erscheinungsbild oder dessen Verhalten gegenüber der Kundschaft auferlegt;
  • die Ergebnisse und Qualität der Arbeit wird überwacht, auch auf elektronischem Weg
  • die Freiheit der Plattformarbeiter wird eingeschränkt, insbesondere die freie Wahl der Arbeitszeiten oder Abwesenheitszeiten, Aufgaben anzunehmen oder abzulehnen oder Subunternehmer oder Stellvertretern einzusetzen;
  • der Plattformbetreiber schränkt wirksam ein, einen Kundenstamm aufzubauen oder Arbeiten für Dritte auszuführen.

Die EU-Kommission meint, ihre vorgeschlagenen Kriterien würden den Plattformen größere Rechtssicherheit und geringere Prozesskosten bringen und die Geschäftsplanung erleichtern. Die Plattformen sollen die Einstufung anfechten können. Dabei müssen sie nachweisen, dass kein Beschäftigungsverhältnis besteht.

Mit ihrer neuen Richtlinie will die EU-Kommission auch die Nutzung von Algorithmen durch digitale Arbeitsplattformen transparenter und automatisierte Entscheidungen anfechtbar machen. Diese Rechte soll sowohl für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer als auch für echte Selbstständige gelten. Außerdem sollen die Algorithmen und ihre Auswirkungen auf die Beschäftigten von Menschen überprüft werden.

Bisher hätten die nationalen Behörden nur schwer Zugang zu Daten der Plattformen und die Personen, die für sie arbeiten. Das gelte stärker für Plattformen, die in mehreren Mitgliedstaaten tätig sind; dadurch sei nicht klar, wo und von wem Plattformarbeit geleistet wird. Die Kommission will die Verpflichtungen zur Anmeldung von Arbeitsverhältnissen gegenüber nationalen Behörden klarstellen und die Plattformen auffordern, den nationalen Behörden wichtige Informationen über ihre Tätigkeiten und die über sie tätigen Personen bereitzustellen.

Plattformarbeit sei für manche die Hauptbeschäftigung, für andere eine zusätzliche Einkommensquelle, erklärt die Kommission. Damit sie alle die neuen Möglichkeiten der Plattformarbeit optimal nutzen können, sei es unerlässlich, dass digitale Arbeitsplattformen in der gesamten EU funktionieren, und zwar in einem klaren Rechtsrahmen. Es gehe darum, "die Vorteile der Digitalisierung für die Zukunft der Arbeit in vollem Umfang zu nutzen" und die soziale Marktwirtschaft in Europa schützen.

Dabei will die EU-Kommission "mit gutem Beispiel vorangehen und einen Beitrag zu künftigen globalen Standards für hochwertige Plattformarbeit leisten". Da Plattformen grenzüberschreitend tätig seien, müsse es auch einen grenzübergreifenden Regulierungsansatz geben. Zunächst einmal aber will die Kommission die Meinung der Betroffenen in einer Konsultation erfahren, die sie am heutigen Donnerstag eröffnet hat.

In der EU gibt es nach Angaben der EU-Kommission 28 Millionen Plattformjobs, die von gut 500 Plattformen angeboten werden und mit denen 2020 etwa 20 Milliarden Euro umgesetzt wurden. Die große Mehrheit der Jobs werden selbstständig ausgeübt, schätzungsweise etwa 5,5 Millionen arbeiteten aber scheinselbständig. Die EU-Kommission geht davon aus, dass durch die neue Richtlinie 1,7 Millionen bis zu 4,1 Millionen Plattformarbeiter richtig eingestuft werden und so manche Plattform ihr Geschäftmodell überarbeitet. Das EU-Parlament hatte sich im September dieses Jahres in einer Entschließung mit großer Mehrheit dafür ausgesprochen, Plattformarbeiter besser zu stellen.

Auf der Seite der Plattformbetreiber stoßen die Bestrebungen auf Widerstand. So befürchtet der Verband Delivery Platforms Europe (DPE), in dem sich die Lieferdienste Bolt, Deliveroo, Delivery Hero, Glovo, Uber Eats und Wolt zusammengeschlossen haben, eine EU-weite Neuklassifizierung der Plattformarbeiter können dazu führen, dass bis zu 250.000 Kuriere ihre Arbeit einstellen, durch die geplanten Regeln könne ein Gesamteinkommen von 800 Millionen Euro wegfallen, twittert DPE. Die Plattformarbeiter wären dann nicht mehr so flexibel wie von ihnen gewünscht. Eine Umfrage unter 16.000 Kurieren habe ergeben, dass Flexibilität der Hauptgrund sei, warum sie sich für Plattformarbeit entschieden hätten.

Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) berichtete im vergangenen Sommer, in manchen Regionen gebe es bereits gewerkschaftliche Bestrebungen unter Plattformarbeitern. Dies gelte vor allem für Ride-Hailing, Essenslieferungen und Online-Freiberuflicher. Manche Plattformarbeiter in der E-Commerce-Logistik, On-Demand-Hausarbeit oder Dateneingabe würden dabei aber außen vor bleiben. Die Beziehungen zwischen Gewerkschaften und Plattformanbietern bezeichnete die ILO als "angespannt".

(anw)