Selfitis: Wie Google versucht, Selfies weniger schädlich zu machen

70 Prozent aller Handyfotos sind Selfies. Oft machen sie unglücklich. Google hat vier Richtlinien, mit denen es Usern besser gehen soll.

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2 Mädchen machen ein Selfie

(Bild: Google)

Lesezeit: 8 Min.
Inhaltsverzeichnis

Bei mehr als 70 Prozent aller Fotos, die mit Handys mit Betriebssystem Android 9 und 10 gemacht werden, kommt nicht die Hauptkamera sondern die Frontkamera zum Einsatz. Daraus lässt sich schließen, dass mindestens 70 Prozent aller Handyfotos Selbstporträts vulgo Selfies sind. Bereits 2016, zum ersten Geburtstag Googles Photos', waren dort 24 Milliarden Selfies gespeichert. Gleichzeitig sagt uns die Forschung, dass Selbstporträts tendenziell unglücklich machen. Google versucht, mit vier Grundsätzen gegenzusteuern.

Zu viele Nutzer sind mit ihren Selfies unzufrieden, bei jüngeren Usern kommt noch Bullying unter dem Vorwand vermeintlich unästhetischer Aufnahmen hinzu. Beides wirkt sich abträglich auf das seelische Wohlbefinden aus. In den USA berichten immer mehr Plastische Gesichtschirurgen von Patienten, die ihren Selfie-Look chirurgisch verbessern lassen möchten. Letztes Jahr hatten bereits 72 Prozent der befragten US-Chirurgen solche Patienten. Auch in Asien gibt es immer mehr Gesichtsoperationen, die nicht medizinisch veranlasst sind.

Automatische Bildbearbeitungen, auch Filter genannt, sind bei Smartphone-Kameras alltäglich. Sie holen erstaunliche Bilder aus winzigen Objektiven und Sensorchips heraus. Viele Hersteller versuchen dabei, Selfies automatisch zu erkennen und das Foto sofort einem Schönheitsideal näherzubringen. Auch das kann die negative Selbsteinstellung der User nicht verhindern, sondern sie nur teilweise reduzieren. Langfristig ist zu befürchten, dass automatische Bearbeitungen zu falschen Vorstellungen führen und Fotofilter so das Selbstwergefühl schmälern.

Um dem entgegenzuwirken, hat Google vier Grundsätze entwickelt: Empowerment (dem Nutzer Entscheidungsgewalt geben), Awareness (den User ins Bild setzen), Controll (dem User Kontrolle geben) und Adaptability (Anpassungsfähigkeit). Primäres Ziel ist, positive Selbsteinstellung zu unterstützen.

Der erste Schritt ist, automatische Bearbeitung von Gesichtern abzuschalten: "Wie können wir Usern dabei helfen, über ihr Selbstbild zu denken?", erklärte Maggie Stenphill, die sich bei Google mit Digitalem Wohlbefinden befasst, ihren Ansatz gegenüber heise online, "Gesichtsbearbeitungsfunktionen sollten etwas sein, dass der User aktiviert. Andernfalls vermittelt es die Botschaft, dass die Nutzer ihr Aussehen ändern sollten."

Dieses User Interface Googles spricht nicht länger von "Verschönerung" sondern wertneutral von "Retouche". Ähnlich werden die Stärken als "subtil" und "weich" bezeichnet.

(Bild: Google)

Der zweite Schritt ist, die genutzten Begriffe und Logos neutral zu gestalten. Schließlich wären Begriffe wie "Verbesserung" oder "Verschönerung" ein Hinweis darauf, dass etwas mit dem echten Gesicht nicht stimme. Begriffe wie "hoch" und "niedrig" sollen durch Ziffern ersetzt werden, Glitzerlogos durch Darstellungen neutralerer Bearbeitungsgeräte ersetzt werden.

An dritter Stelle steht Transparenz, also beispielsweise deutlich einzublenden, wann Filter mitmischen. Das gleitet über in die vierte Maßnahme, nämlich Information zu vermitteln und Bewusstsein zu schaffen. Selbst umsetzen möchte Google seine Vorgaben in den Kamera-Apps seiner Pixel-Smartphoneserie sowie bei der Bildbearbeitung Google Photos'. Als positives Beispiel nennt Google Snapchat, das ebenfalls Googles Empfehlungen folgt.

Da Google und dessen Apps international bestehen müssen, hat der Datenkonzern eine ethnographische Studie in Deutschland, Indien, Südkorea und den USA durchgeführt, wobei jeweils mehr als 200 Personen qualitativ befragt wurden. Dabei zeigen sich enorme Unterschiede im Einsatz von und der Einstellung zu Selfies, sowohl zwischen den Gesellschaften als auch zwischen den Geschlechtern.

Deutsche User nutzen Filter seltener als alle anderen, und hegen auch deutlich mehr Bedenken über die Auswirkungen der Filter auf das Wohlbefinden. Die Sorge über die Wirkung der Filter auf Kinder ist auch in den USA hoch, während sie in Südkorea nur moderat und in Indien gering ausgeprägt ist.

Unbearbeitetes Selfie, der Jahreszeit entsprechend.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Deutsche Eltern beschreiben sich auch als sehr involviert was die Profile ihrer Kinder in Sozialen Netzwerken anbelangt. Eltern möchte keine Bilder ihrer Kinder online sehen, weshalb der Nachwuchs in der Regel um Erlaubnis für das Posten von Fotos bitten muss. Jüngere Knaben nutzen Filter kaum, außer für "lustige" Veränderungen. Zudem erkennen Eltern oft negativen Einfluss von "Influencern", deren Schönheitsstandards und zu starkem Filtereinsatz, insbesondere auf junge Mädchen. Mit zunehmenden Alter erkennen deutsche Jugendlichen auch selbst solche Gefahren.

Während die deutschen Schönheitsideale den US-Vorstellungen ähneln (perfekte, glatte Haut, volle Lippen, große Augen und eine schlanke Taille), bevorzugen viele Deutsche einen "natürlichen Look". Der wird als Ausdruck von Selbstakzeptanz und Selbstbewusstsein interpretiert. Selbst jene, die Filter-Einsatz zugeben, wollen das nur gemäßigt tun. Manche grenzen sogar Freunde und Bekannte aus, deren Bildbearbeitung als absichtlich irreführend wahrgenommen wird.

In den USA ist der Einsatz von Selfie-Filtern weiter verbreitet – die intensivste Nutzergruppe sind Frauen über 30. Dabei würden auch jüngere Männer ihre Selfies gerne mehr bearbeiten, fürchten aber, dafür ausgelacht zu werden. Überhaupt finden sich viele Amerikaner in dem Spannungsfeld zwischen Wunsch nach künstlicher Verschönerung und Angst vor Kritik wieder. Gleichzeitig erkennen sie die Ironie des sozialen Drucks, der zum Einsatz von Filtern treibt, und dem damit verbundenen Stress für den einzelnen Selfie-Fotografen.

Die meisten Befragten nutzten Snapchat, um Selbstporträts zu machen, zu bearbeiten, und weiterzuverbreiten. Gleichzeitig wird Selfie-Bearbeitung bei anderen kritisch gesehen, sofern es sich nicht um offensichtlich lustig gemeinte Spielerei handelt. Wer sein Foto zu stark verändert, läuft Gefahr als Narziss oder aber als Person mit zu geringem Selbstwertgefühl geringgeschätzt zu werden. Das Risiko ist echt, da manche Befragten zugeben, bei Postings anderer aktiv nach Anzeichen von Bildbearbeitung zu suchen.

In Südkorea sind Selfie-Bearbeitungen zur Verschönerung normal und akzeptiert. Ziel ist dort, die erhebliche Bearbeitung "unbeschwert" wirken zu lassen. Fast alle Befragten unter 29 Jahren bearbeiten die Mehrheit ihrer Selfie nach. Viele User, insbesondere Frauen, verwenden dabei regelmäßig mehrere Apps hintereinander, etwa Snow, Soda und Ulike.

Irreführende Selfie-Verarbeitung wird nicht als problematisch erachtet, außer bei der Partnersuche. Denn Südkoreaner gehen davon aus, dass sowieso alle Bilder vor dem Upload intensiv bearbeitet wurden. Das wird als Ergebnis aber auch Treiber von Lookism gesehen – der Beurteilung von Menschen nach ihrem Aussehen.

Dennoch haben Südkoreaner Bedenken: Der Zeitaufwand für die Bearbeitung von Selfies könnte zu sozialer Isolation und exzessiver Handynutzung führen. Zahlreiche Befragte gaben zu, durch die konstante Selfie-Bearbeitung ihr echtes Gesicht nicht mehr leiden zu können, weshalb sie kosmetische Prozeduren und plastische Chirurgie in Anspruch nehmen möchten. Alles in allem wird Selfie-Bearbeitung dennoch als positiv für die Gesellschaft gesehen, weil sie das Selbstbewusstsein der User stärke.

Auch in Indien ist Selfie-Bildbearbeitung weit verbreitet und als nützlich angesehen. Die Kamera ist sogar das wichtigste Merkmal für die Auswahl des eigenen Handys. Automatische "Verschönerung" durch die Kamera wird dabei als positiv erachtet.

Insbesondere Frauen reagieren enthusiastisch auf die Möglichkeit, ihre Gesichtsporträts schöner aussehen zu lassen, und nutzen dafür auch mehrere Apps. Am Beliebtesten sind PicsArt und Makeup Plus, bei Frauen unter 29 auch Snapchat. Das Anfertigen und Teilen von Selbstporträts ist so ein großer Teil des Lebens indischer Frauen, dass es ihren Alltag verändert und sogar finanzielle Probleme bereiten kann: Mehrere Befragte berichtete, dasselbe Gewand nicht mehr zu tragen, wenn es einmal in einem veröffentlichten Selfie zu sehen war.

Männer sind auch aktive Selbstfotografen und Bildbearbeiter, doch streben sie laut Studie mehr danach, eine Geschichte zu erzählen als ihr Aussehen zu verändern. Kein Thema sind in Indien Bedenken hinsichtlich negativer Auswirkungen der Selfie-Bearbeitung, selbst auf Kinder. Indische Eltern sorgen sich mehr um exzessiven Handygebrauch ihrer Kinder, sowie deren Privatsphäre und Sicherheit.

Allerdings hat indische Akzeptanz von Selfie-Veränderungen auch ihre Grenzen. Es kommt darauf, was man verändert. Sich eine hellere Hautfarbe zu geben oder nachträglich Makeup hineinzuretouchieren ist in Ordnung, während die Veränderung der Haarfarbe oder das Verschieben von Wangenknochen oder Augenbrauen nicht akzeptiert ist. Auch die befragten Inder geben an, nach einem "natürlichen Look" zu streben – allerdings ist die Vorstellung von "natürlich" deutlich weiter gefasst als in den anderen drei Ländern.

(ds)