iX 10/2017
S. 3
Editorial
Oktober 2017
Jürgen Seeger

Nur die Totenglocke geläutet

Als „Formatkrieg“ wird die Auseinandersetzung um verschiedene Videokassettenformate in den 70er- und 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts bezeichnet. Im Ergebnis konnte sich VHS gegen Betamax und Video 2000 durchsetzen. Nicht weil es das technisch bessere System war, sondern weil seine Protagonisten keine Bedenken in Sachen Pornografievertrieb hatten.

Mit Linux und seinen Vorfahren, den klassischen Unixen von AIX über HP-UX bis zu SCO und Solaris, verhält es sich ähnlich. Technisch ist Linux ein Me-too-Produkt. Innovationen kamen großteils aus den Laboren der traditionellen Unix-Entwickler – von der 64-Bit-Adressierung bis zum Dateisystem ZFS.

Doch wer spät kommt, wird keineswegs immer vom Leben bestraft. Und schon gar nicht vom Markt. Linux dominiert im Segment „Server ohne Windows“ ohne nennenswerte Konkurrenz aus dem Unix-Lager. Denn spätestens mit der De-facto-Abkündigung der Weiterentwicklung von Solaris (siehe Seite 19) ist das Ende der klassischen Unixe eingeläutet.

Zwar bieten IBM und HPE noch AIX- respektive HP-UX-Systeme an, und Oracle hat jüngst für die neue SPARC-Generation Support bis 2034 angekündigt. Doch der Rhythmus, in dem neue Betriebssystemversionen vorgestellt werden, erinnert mittlerweile fatal an die Fünfjahrespläne des untergegangenen Sozialismus.

Und mit den Massenentlassungen in der Entwicklungsabteilung hat Oracle auch die SPARC-Architektur ins Hinterzimmer verbannt. Dass diese einstmals zukunftsweisende Prozessorfamilie durch Fujitsu und OpenSPARC-Vereine je wieder relevant werden wird, ist mehr als unwahrscheinlich. Überleben in der Nische kann vieles, nur: Wen scherts?

Gründe für die Niederlage von UNIX™ gibt es ein ganzes Bündel. Etwa die mangelnde Konkurrenzfähigkeit der RISC-Architekturen, auf denen diese Betriebssysteme laufen beziehungsweise liefen, gegenüber den ungleich billigeren x86-Systemen. Auch hausgemachte wie die mangelnde Kompatibilität von APIs und Administrationswerkzeugen – wer AIX beherrscht, kann nicht ohne Einarbeitung Solaris verwalten.

Wovon diese Unixe darum nie profitieren konnten, waren Skaleneffekte. Wichtiger als die sinkenden Stückkosten sind dabei Faktoren wie viele ausgebildete Administratoren oder eine vielfältige Softwarepalette von Drittanbietern. All das gibt es erst ab einer gewissen Größenordnung. Die hat Linux erreicht, weil es lizenzkostenfrei ist und auf einer weitverbreiteten Hardwareplattform läuft. Vielleicht auch, weil die Quellen offen liegen.

Wer allerdings zu Unrecht für den Niedergang von Solaris verantwortlich gemacht wird, sind Larry, Mark und Safra. Die Oracle-Spitze hat lediglich ein bisschen Sterbehilfe geleistet und dann die Totenglocke geläutet. Auch aus der Produktion von Betamax- und Video-2000-Rekordern zogen sich in den 1990ern die Hersteller zurück. Weil es marktgerecht war, nicht aus böser Absicht.

Unterschrift Jürgen Seeger Jürgen Seeger