iX Special 2017
S. 3
Editorial
Jürgen Diercks

Frei von Zwängen

Agiles Vorgehen hat sich in der Softwareentwicklung durchgesetzt. Das bestreitet niemand mehr, eine neue Studie zur Lage in Deutschland kommt ebenfalls zu diesem Schluss (mehr dazu auf S. 10). Alle beteiligten Unternehmen erhoffen sich durch den Einsatz entsprechender Techniken bessere Produkte, schlankere Prozesse, kürzere Lieferzeiten sowie zufriedenere Mitarbeiter und Kunden.

Ein Allheilmittel, das die Protagonisten des Agilen erfunden haben? Mitnichten. Denn immer noch scheitern Entwicklungsprojekte, und zwar auch nicht seltener als früher. Die Standish Group behauptet in ihrem berüchtigten Chaos Report 2015, dass nur 29 Prozent aller IT-Projekte erfolgreich verlaufen, 52 Prozent verursachen mehr Kosten als geplant und/oder werden nicht rechtzeitig fertig. Und 19 Prozent kollabieren komplett. Über die letzten Jahre hat sich in der statistischen Verteilung nicht viel bewegt (siehe „Alle Links“). Wissenschaftler zweifeln die Methodik der Studie zwar an, aber geschenkt: Jeder in der Softwareentwicklung Beschäftigte weiß, dass dabei einiges schiefgehen kann.

Gründe dafür gibt es reichlich. Ein wichtiger: In der Begeisterung über die vielen neuen Organisationsmethoden und Motivationshilfen vergessen leider einige, dass ein Hammer allein nicht genügt – man muss auch wissen, wie man den Nagel einschlägt, ohne sich dabei den Daumen zu plätten.

Das zeigt ein Grundproblem (nicht nur) der IT-Welt: Viele glauben, bessere Werkzeuge würden automatisch bessere Ergebnisse liefern. Das stimmt jedoch in aller Regel nicht. Das Phänomen ist beispielsweise in hochgerüsteten Küchen zu beobachten: Derjenige mit dem schärfsten Japan-Messer und dem teuersten High-Tech-Herd kann oft am schlechtesten kochen, weil er entweder die Grundlagen nicht beherrscht, die Luxusausstattung nur als Statussymbol angeschafft hat oder weil alle anderen auch so etwas besitzen.

Kreativität und Motivation gedeihen am besten, wenn Angestellte und Kunden sich fair behandelt fühlen. Gegen diese Erkenntnis hat kaum jemand etwas einzuwenden, leider bleibt sie oft auf halber Strecke stecken. Denn psychologische Techniken zur Effizienzsteigerung bewirken nur dann etwas, wenn man die Sache ernsthaft betreibt und nicht nur als weitere Strategie ins Management-Portfolio packt. Nichts klingt hohler als die Phrase „Die Mitarbeiter sind unser wertvollstes Gut“, wenn schlechtes Betriebsklima, Hierarchiegerangel oder gar Mobbing den Firmenalltag prägen. Menschen haben für so etwas ein feines Gespür und sind in der Lage, ausgefeilte Gegenstrategien zu entwickeln. Bremsen und ins Leere laufen lassen sind immer noch beliebte Beschäftigungen frustrierter Angestellter.

Scrum und Co. zu bedienen, ist gar nicht so schwierig, wenn man das Marketinggetöse ausblendet und sich klarmacht, worum es tatsächlich geht: um gute Kommunikation und Kooperation in strukturierter Form und mit dem Partner auf Augenhöhe. In Kommando- und Kontrollsystemen wie beim Militär kann sich kein wacher Geist entfalten. Agil zu arbeiten heißt in erster Linie, im Kopf frei zu sein und die Zwänge klein zu halten.

Jürgen Diercks