MIT Technology Review 6/2023
S. 3
Editorial
, Foto: Ricardo Wiesinger
Foto: Ricardo Wiesinger

Liebe Leserinnen und Leser,

als mein Sohn neulich für eine Mathearbeit lernte und sein MacBook neben sich hatte, sah ich erstaunt auf den Bildschirm: Er hatte ChatGPT offen und ließ sich Übungsaufgaben von der Software geben. Die KI erklärte ihm auch den Rechenweg und stellte auf Wunsch Übungsaufgaben in der von ihm gewünschten Schwierigkeit.

Die Mathe-Aufgaben meines Sohnes sind nur ein Beispiel dafür, wie stark generative KI Einfluss aufs Lernen haben könnte. Denn ChatGPT und Co. stellen infrage, inwiefern die klassische Wissensvermittlung im Klassenzimmer noch sinnvoll ist, wenn eine KI in Zukunft nahezu alles Wissen der Welt innerhalb von Sekunden in geforderter Form liefert. Wie kann Schule darauf reagieren?

Individuelleres Lernen, an das Lernniveau angepasste Aufgaben, analytische Fähigkeiten stärken, weniger repetitive Aufgaben und Auswendiglernen: Das verändert nicht nur, wie Lehrkräfte die Leistungen der Schüler einordnen – schließlich würden Transferleistungen eine viel wichtigere Rolle spielen, und die lassen sich nicht einfach wie abgefragtes Wissen bewerten. Dieses neue Lernen passt auch viel besser zu den geforderten Skills für den Arbeitsmarkt der Zukunft – die oft zitierten vier Ks: Kommunikation, Kollaboration, Kreativität und kritisches Denken (Seite 14).

Bei aller Euphorie stellt sich allerdings die Frage, wie gut digitale Werkzeuge dafür geeignet sind, die Grundfähigkeiten zu erlernen – zum Beispiel das Lesen (Seite 42). Wenn Schülerinnen und Schüler dafür ein digitales Endgerät nutzen, wie hoch ist der Lerneffekt im Vergleich zum gedruckten Papier? Gibt es überhaupt einen Unterschied?

Software kann aber nicht nur beim Lernen helfen, sondern auch die Stimmung in den Klassen einfangen. Lehrende in Dänemark nutzen dafür spezielle Apps (Seite 24). Das ist interessant, weil seelische Erkrankungen unter Schülern auch hierzulande ein zunehmendes Problem sind: Zwischen den Jahren 2000 und 2017 hat sich die Zahl von Kindern mit Depressionen unter 15 Jahren laut Statistischem Bundesamt verzehnfacht. Die Pandemie hat diesen Trend sogar noch verstärkt.

Das Klassenzimmer wird – endlich – immer digitaler. Jetzt ist es wichtig, es so zu gestalten, dass wir unseren Nachwuchs gut für seine Zukunft vorbereiten. Denn es gibt einiges zu tun in der Welt des 21. Jahrhunderts.

Ihr

Luca Caracciolo

@papierjunge