Blockade von Leningrad: Russland fordert deutsche Anerkennung als Völkermord

Leningrader auf dem Nevski Prospekt während der Belagerung, 1. April 1942. Foto: RIA Novosti Archiv / Boris Kudoyarov / CC-BY-SA 3.0 Deed

Mehr als eine Million Menschen wurden Opfer. Die Bundesregierung spricht von einem Kriegsverbrechen. Russland drängt auf eine Anerkennung als Genozid.

Die Befreiung Leningrads jährte sich am 27. Januar zum achtzigsten Mal. Die 872 Tage währende Blockade der Metropole an der Newa, wo sich zu diesem Zeitpunkt etwa 3,5 Millionen Menschen aufhielten, war auf Telepolis Gegenstand einer dreiteiligen Serie.

Jetzt meldet die staatliche russische Nachrichtenagentur Tass, das russische Außenministerium habe eine Aufforderung an das Auswärtige Amt geschickt.

Deutschland wird darin ein "widersprüchlicher Umgang" mit der Vergangenheit vorgeworfen. Deutsche Verbrechen aus der Kolonialzeit (Namibia) seien als Völkermord anerkannt worden, die nationalsozialistischen Verbrechen gegen die Völker der Sowjetunion hingegen aber nicht.

"Die russische Seite besteht auf einer offiziellen Anerkennung solcher Untaten des 'Dritten Reichs' als Genozid", heißt es laut einer dpa-Meldung in der Note.

Das Auswärtige Amt reagierte mit der Feststellung:

Die Leningrader Blockade war ein furchtbares Kriegsverbrechen, das die deutsche Wehrmacht über Leningrad und seine Bevölkerung gebracht hat.

Reparationen

Die Note macht einmal mehr den russischen Vorwurf, Deutschland zahle nur jüdischen Opfern der Blockade individuell Entschädigung, russische und andere Opfer hingegen nicht. Bereits vor einigen Monaten hatte die russische Regierung die deutschen Entschädigungszahlungen beklagt.

Auf eine entsprechende kleine Anfrage einiger Abgeordneter der Partei Die Linke bereits im Jahr 2017 antwortete die Regierung:

Schädigungen, die nicht aus rassisch motivierter Verfolgung, sondern aus allgemeinen Kriegshandlungen herrühren, fallen unter das allgemeine Völkerrecht und werden nicht durch individuellen Schadenersatz, sondern durch Reparationsvereinbarungen von Staat zu Staat geregelt.

Es obliegt dem Staat, der Reparationen empfangen hat, die individuellen Schäden auf seinem Territorium auszugleichen und seine durch den Krieg geschädigten Bürger in angemessener Weise zu entschädigen. Die frühere Sowjetunion hat in erheblichem Umfang Reparationen vereinnahmt und im August 1953 auf weitere deutsche Reparationsleistungen verzichtet.

Antwort der Bundesregierung

Bereits an anderer Stelle hatte der Autor dies kommentiert:

"So juristisch sauber die Erklärung, so erstaunlich die Verwendung des Begriffs 'allgemeine Kriegshandlung' im Hinblick auf die Blockade von Leningrad."

"Allgemeine Kriegshandlung"

Gerade in den alten Bundesländern ist das Narrativ noch weitverbreitet, dass es sich bei der Blockade von Leningrad um eine Belagerung gehandelt habe, die tragischerweise viele Opfer gefordert hätte, aber im Grunde etwa den militärischen Operationen im Mittelalter ähnelte, in denen Burgen bis zur Kapitulation belagert wurden.

So schreibt der Historiker Wigbert Benz "jahrzehntelang wurde die Aushungerung Leningrads in der BRD zu einer normalen Belagerung marginalisiert".

Bei der Einschätzung der Blockade von Leningrad ist aber maßgeblich, dass die deutsche Seite entschieden hatte, eine Kapitulation von Leningrad nicht anzunehmen, also ganz bewusst die Millionenstadt aushungern wollte.

Im ersten Teil der bereits zitierten Artikelserie werden die Belege für diese These ausführlich angeführt.

An dieser Stelle sollen – gleichsam stellvertretend – nur zwei Stellen zitiert werden. Alfred Jodl, Chef des Wehrmachtsführungsstabs, schrieb:

Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von Leningrad oder später von Moskau nicht anzunehmen ist, auch wenn sie von der Gegenseite angeboten würde.

Alfred Jodl

Und am 12. Oktober schreibt Generalfeldmarschall Wilhelm Ritter von Leeb:

Es ist heute die Entscheidung des Oberkommandos der Wehrmacht bezüglich der Stadt Leningrad gekommen; danach darf eine Kapitulation nicht angenommen werden.

Wilhelm Ritter von Leeb

Die Genozidfrage

Das deutsche Völkerstrafgesetzbuch schreibt unter § 6.1:

Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören,
1. ein Mitglied der Gruppe tötet,
2. einem Mitglied der Gruppe schwere körperliche oder seelische Schäden, insbesondere der in § 226 des Strafgesetzbuches bezeichneten Art, zufügt,
3. die Gruppe unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen ...

Auf eine Kleine Anfrage, die oben bereits erwähnt wurde, wie die Blockade von Leningrad einzustufen sei, antwortete die Bundesregierung:

Die Blockade von Leningrad ist eines der vielen schrecklichen deutschen Kriegsverbrechen im Krieg gegen die Sowjetunion, an die die Erinnerung weiterhin wachgehalten werden muss.

Antwort der Bundesregierung

Eine Reihe von Historikern sprechen explizit von einem Genozid. So ist laut einer Einschätzung der Historikerin Susanne Schattenberg unter Historikern nicht mehr umstritten, dass die Blockade von Leningrad ein Genozid ist.

Auch der deutsche Historiker Christian Hartmann spricht explizit von einem "Genozid" und der US-amerikanische Historiker Richard Bidlack sowie sein russischer Kollege Nikita Lomagin stellen fest:

Nach dem Holocaust war der die Blockade Leningrads der größte Akt eines Genozids in Europa während des Zweiten Weltkrieges.

Als Antwort auf eine Anfrage von Telepolis ordnet das Auswärtige Amt die Blockade von Leningrad als ein "Kriegsverbrechen" ein. Die Nachfrage, warum es angesichts der Belege nicht als Genozid angesehen werde, blieb unbeantwortet.

Der Hungerplan

Die Berliner Zeitung führt einen weiteren Historiker und einen weiteren Grund an, dass man die Blockade von Leningrad durchaus als einen Genozid einstufen kann:

Die Frage bleibt: Sind die Forderungen Moskaus berechtigt?

"Die Blockade Leningrads muss im Kontext der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gesehen werden. Besonders relevant ist dabei der 'Hungerplan', also der kalkulierte Hungertod von Millionen Sowjetbürgern, um die Wehrmacht 'aus dem Land' ernähren zu können und 'Überschüsse' aus den besetzten Gebieten auszuführen", sagt Robert Kindler auf Anfrage der Berliner Zeitung.

Berliner Zeitung

Der Osteuropa-Historiker an der Freien Universität Berlin geht davon aus, dass diese Hungerpolitik insgesamt als genozidal bezeichnet werden sollte.

Es handelt sich also nicht um einen isolierten und gezielten "Völkermord" an der Einwohnerschaft Leningrads, sondern richtete sich gegen alle Sowjetbürger, so Kindler.

Berliner Zeitung

Zum Hintergrund: Als sogenannter Hungerplan wird eine 1941 entwickelte Strategie im Rahmen der Kriegsführung gegen die Sowjetunion bezeichnet. Über das Schicksal der Sowjetunion heißt es beispielsweise in der Aktennotiz einer Besprechung der Staatssekretäre knapp zwei Monate vor Kriegsbeginn, dass "zweifellos zig Millionen verhungern, wenn das für uns Notwendige aus dem Lande herausgeholt wird".

Nur unwesentlich menschlicher in den "Wirtschaftspolitischen Richtlinien":

Viele 10 Millionen von Menschen werden in diesem Gebiet überflüssig und werden sterben oder nach Sibirien auswandern müssen.

Die Wehrmacht schonen?

Am 27. Januar 2024 hieß es in den Tagesthemen bei der Anmoderation zur "Aufhebung der Blockade von Leningrad":

Hitler hatte entschieden, keine großen Verluste für die deutsche Wehrmacht durch weitere Kämpfe in Kauf zu nehmen. Stattdessen wollte er die Zivilbevölkerung und das dortige Militär systematisch verhungern lassen.

Da es der einzige Grund für die Blockade der Millionenstadt ist, die die Tagesthemen anführen, sah sich Telepolis zu einer Presseanfrage genötigt. Diese lautete:

1. Auf welche Quellen stützt sich die Aussage zur Hitlers Entscheidung?
2. Warum wird nicht erwähnt, dass Hitler wiederholt die Entscheidung getroffen hatte, eine Kapitulation Leningrads, so sie erfolge, sei nicht anzunehmen?
Beispielsweise sagte Alfred Jodl: "Der Führer hat erneut entschieden, dass eine Kapitulation von Leningrad oder später von Moskau nicht anzunehmen ist, auch wenn sie von der Gegenseite angeboten würde."

Die Reaktion der Pressestelle:

Informationen zur Leningrader Blockade finden Sie in vielen Quellen, zum Beispiel bei der Bundeszentrale für politische Bildung oder auf der Seite des Deutschen Historischen Museums. Eine Moderation in den tagesthemen umfasst ca. 40 Sekunden, die ein solch umfassendes Thema daher verständlicherweise nur kurz betrachten kann.

Aus einer E-Mail an die Redaktion

Dies kann kaum als eine adäquate Antwort verstanden werden. Deshalb wendete sich Telepolis noch einmal an die Pressestelle, um den Hintergrund für die ungewöhnliche Erklärung der Blockade von Leningrad zu ergründen.

Bei der Bundeszentrale für politische Bildung, auf die die Pressestelle verwiesen hatte, findet sich kein Hinweis darauf, dass Hitler bei Leningrad die Wehrmacht habe schonen wollen und sich deshalb für eine Blockade entschied. In der zweiten Anfrage schrieb Telepolis:

Das gängige Hauptargument in der Forschung ist der vielfach belegte Befehl Hitlers, dass eine Kapitulation Leningrads nicht angenommen werden dürfe, also das Verhungern von 3,5 Millionen Menschen ganz bewusst in Kauf genommen wurde, ohne dass diese sich durch eine Kapitulation retten konnten. So beispielsweise in Jörg Ganzenmüllers Buch "Das belagerte Leningrad".

So steht in der von Ihnen angegebenen Quelle der Bundeszentrale für politische Bildung: "Es war ein Massenmord mit Ansage. Ein Verbrechen, bei dem die Massenmörder nicht anwesend sein mussten. 'Sich aus der Lage der Stadt ergebenden Bitten um Übergabe werden abgeschlagen werden. Ein Interesse an der Erhaltung auch nur eines Teils dieser großstädtischen Bevölkerung besteht (…) unsererseits nicht.' So steht es in einer geheimen Direktive des Stabes der deutschen Kriegsmarine vom 22. September 1941."

Unsere Frage daher: Warum nennt die Tagesschau den in der Forschung normalerweise genannten Hauptgrund nicht?"

Anfrage von Telepolis

Die noch knappere Antwort:

Hier liegt ein Missverständnis vor. In der Moderation wird nicht von einem Hauptgrund für die Belagerung von Leningrad gesprochen. Noch einmal der Hinweis: Eine Moderation in den tageshemen umfasst ca. 40 Sekunden und kann ein solch umfassendes Thema verständlicherweise nur kurz betrachten.

E-Mail an die Redaktion

Die Einschätzung, inwiefern dies die Wahl des einzigen Grundes für die deutsche Entscheidung zur Blockade von Leningrad dadurch erklärt wird, bleibt jeder Leserin und jedem Leser selbst überlassen.

Was in jedem Fall eine Tatsache bleibt: In Deutschland ist die Blockade von Leningrad weiterhin (insbesondere in den alten Bundesländern) viel zu wenig bekannt.

Vor allem, dass es sich hierbei um ein vorsätzliches Aushungern handelte, weil die Entscheidung getroffen worden war, eine Kapitulation Leningrads nicht anzunehmen. Dass die Stadt niemals kapitulierte, ändert an dem Tatbestand des Vorsatzes auf der deutschen Seite nichts.

Deutsche Verantwortung

Sicherlich ist es berechtigt, die Frage aufzuwerfen, ob der Zeitpunkt der russischen Forderung nach einer deutschen Anerkennung der Blockade Leningrads als Genozid einem politischen Kalkül folgt. Dieser Punkt ist aber gänzlich unabhängig davon, ob Russland in seiner Forderung inhaltlich recht hat oder nicht.

Gerade wenn sich die deutsche Regierung immer wieder auf Moral und Werte beruft, kann die Antwort auf die Frage, ob es sich bei der einem Kriegsverbrechen um einen Völkermord handelt, nicht davon abhängen, wer das Opfer ist.

Deshalb sollte Deutschland als Tätervolk sich seiner Verantwortung stellen und eine Kommission aus Völkerrechtlern und Historikern einsetzen, die beurteilt, ob die Blockade von Leningrad ein Völkermord ist oder "nur" ein Kriegsverbrechen.

Diese ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und der eigenen Schuld würde auch den Vorwurf von Doppelstandards entkräften und Wasser von den Mühlen russischer Propaganda nehmen.