iX 6/2020
S. 3
Editorial
Juni 2020

Suche nach Erlösung

Was wäre, wenn zukünftig anstatt menschlicher Eliten in Politik, Gesellschaft und Ökonomie die künstliche Intelligenz für uns alle Entscheidungen trifft? Wenn die Maschine berechnet, was die Menschheit in welchem Maß braucht und bekommt – logisch, unvoreingenommen und vor allem nicht korrumpierbar?

Diese Fragen stellte kürzlich ein selbst ernannter Zukunftsphilosoph in einer Pressemitteilung. Um es vorwegzunehmen: Er findet Digitalisierung und Maschineneinsatz auf allen Ebenen unausweichlich, als letzten Rettungsanker gar für die Zivilisation, die gerade dabei ist, an ihrem Egoismus zu zerbrechen. Demokratie sei da nur ein Störfaktor, weil zu viele durcheinanderquatschen.

Darüber ließe sich trefflich streiten. Die Folgerung, dass die Menschen ihre Unzulänglichkeiten an Algorithmen delegieren sollen, die es dann schon richten werden, ist jedoch ein fataler Trugschluss. Denn die entscheiden keineswegs weise zum Wohle der Gemeinschaft, sondern nach Daten- und Aktenlage, und die kann falsch sein.

Anbieter von Business-Intelligence-­Werkzeugen und sonstige Protagonisten der IT-Szene wussten es schon immer: Wer möglichst viele Daten sammelt und es schafft, die dort vermeintlich gespeicherten geheimen Verbindungen auf­zuspüren, kann viel Geld verdienen und bessere Entscheidungen treffen als selbst die klügste Wissenschaftlerin oder der gewiefteste Politiker. Der israelische Historiker und Bestsellerautor Yuval Harari prognostiziert sogar, dass der Mensch durch KI und Bionik Fähig­keiten erlangen werde, die früher den Göttern vorbehalten waren (siehe ix.de/z49g). Solche Selbstherrlichkeit ist allerdings fragil, wie uns ein winziges Virus gerade eindrucksvoll spüren lässt.

In vielen Szenarien können heutige KI-Systeme sicher nützliche Arbeiten verrichten. Ein Allheilmittel bei der Bekämpfung von Pandemien und anderen Menschheitsgeißeln sind sie jedoch nicht, auch wenn die Anbieter das momentan gern so darstellen. Da werden beispielsweise KI-Bots zur Geheimwaffe im Kampf gegen das Virus befördert, weil sie aus handschriftlichen Arztbefunden lesbaren Text extrahieren, eine Technik, die man von altbackenen OCR-Systemen schon lange kennt.

Der unerschütterliche Glaube an Zahlen, Statistiken und Digitalisierung kollidiert gerade heftig mit der Realität. Corona zeigt deutlich, was auch vorher schon verkehrt lief bei den Predigern der allumfassenden Durchtechnisierung der Gesellschaft. Wenn Wissenschaftler sich streiten, ist das grundsätzlich in Ordnung, anders ist Erkenntnisgewinn nicht möglich. Letztgültige Wahrheiten kommen dabei jedoch selten heraus, auch wenn sich vermutlich die meisten Menschen danach sehnen. Wunderbar visualisierte Grafiken und Kurven suggerieren eine mit Fakten unterfütterte Sicherheit, die mit dem tatsächlichen Geschehen oft nicht viel zu tun hat.

Corona wirft alle vermeintlichen Gewissheiten über den Haufen, das Leben besteht eben doch aus zahlreichen Unwägbarkeiten. Und die Datenzauberer präsentieren zwar viele schöne Modelle, die uns in ihrer Vielfältigkeit und Widersprüchlichkeit jedoch leider oft ratlos zurücklassen. Tools bleiben Tools, auch wenn KI und Machine Learning draufsteht. Die altbewährte Lebensweisheit des Big-Data-Geschäfts bringt es auf den Punkt: Shit in, Shit out.

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