MIT Technology Review 4/2023
S. 112
Review
Meinung

Keine Zeit für Experimente!

Die geplante Verschärfung der Chemikalienverordnung REACH wurde verschoben – auf Druck von Industrieverbänden. Die Argumente: Die Belastungen für die Wirtschaft seien zu hoch, es sei „keine Zeit für Experimente“. Zynischer geht es kaum.

Jedes Jahr sterben mindestens 1,8 Millionen Menschen weltweit an den Folgen der Umweltverschmutzung mit künstlichen Chemikalien, fast doppelt so viele wie im Straßenverkehr. In Europa ist mancherorts jedes vierte Kind unter 18 Jahren so stark mit Schadstoffen belastet, dass gesundheitliche Folgen nicht auszuschließen sind. Der Chemikaliencocktail schädigt zudem Pflanzen und Tiere, verändert die Ökosysteme unseres Planeten und gefährdet die Menschheit dadurch auch indirekt. Von milliardenschweren Folgekosten, bedingt durch Krankheiten und das Management von Umweltschäden, ganz zu schweigen.

Unfassbar ist daher, dass sich die EU-Kommission bei der geplanten Schärfung der Chemikalienverordnung REACH von Industrieverbänden – die deutschen ganz vorne mit dabei – hat ausbremsen lassen. Die Verordnung regelt, dass nur noch chemische Stoffe in Verkehr gebracht werden dürfen, die vorher registriert worden sind. Der Termin zur Vorschlagsvorlage wurde zweimal verschoben, erst auf Anfang 2023 und kürzlich auf das Ende dieses Jahres. Das mag nach einem überschaubaren Aufschub klingen, doch Nichtregierungsorganisationen befürchten weitere Verzögerungen, womöglich gar das Aus für die Reform. Schließlich werden die EU-Gremien nach der Europawahl 2024 neu besetzt.