MIT Technology Review 1/2024
S. 51
Report
Kolumne

Die digitale Nabelschnur

Wir dürfen uns nicht damit abfinden, dass Minderjährige im Netz Gefahren begegnen. Wir müssen aber auch aufpassen, dass sich Eltern und Kinder mittels dysfunktionaler technischer Lösungen nicht in falscher Sicherheit wiegen.

Julia Kloiber

Wir schreiben das Jahr 1998. Ich bin zwölf und sitze im Arbeitszimmer meines Vaters. Ich habe soeben das Modem eingesteckt, denn ich bin zum Chatten mit Freund*innen verabredet. Um Punkt 18:00 Uhr betrete ich als julchen.k den fm4-Chat. Noch heute sehe ich das Design vor mir: schwarzer Hintergrund, bunte Nicknames. Meine Freundinnen rebi86 und blueberry55 kommen dazu. Manchmal passiert es, dass jemand in unserem Raum auftaucht, den wir nicht kennen. Diese Momente sind unheimlich und aufregend zugleich. On the internet, nobody knows you’re a dog. Manchmal chatten wir ein bisschen mit dem Fremden oder schließen den Raum schnell. Klarnamen oder Bilder teilen wir nie. Wie auch? Webcam am Röhrenmonitor? Fehlanzeige.

, Illustration: Rainbow Unicorn
Illustration: Rainbow Unicorn

25 Jahre fast forward gibt es einen Begriff für das, was uns damals widerfahren ist: Cybergrooming. Der Begriff steht für Interaktionen, in denen sich Erwachsene im Internet an Minderjährige heranmachen. 2022 gab ein Viertel aller Kinder und Jugendlichen an, Erfahrungen mit Cybergrooming gemacht zu haben. Tendenz steigend. Mit zunehmendem Alter der Jugendlichen wird dieser Anteil größer. Die Kinder und Jugendlichen sitzen mit ihren eigenen Devices im Kinderzimmer. Sie texten, spielen Computerspiele, laden Videos auf Social-Media-Plattformen. Das Internet ist ihr Zuhause. Doch was ist das für ein Zuhause, in dem angeblich an jeder Ecke Gefahren lauern?