Missing Link: Wenn Einsteins kosmologische Konstante nicht konstant ist

Seite 3: Was stimmt mit dem Strukturwachstum des Universums nicht?

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Nguyen, Huterer und Wen analysierten unter anderem die Streuung der Rotverschiebung von Galaxien in Galaxienhaufen bei verschiedenen kosmologischen Rotverschiebungen z. Diese Streuung ergibt sich zum einen aufgrund der individuellen Bewegungen der Galaxien durch den Raum ("Pekuliargeschwindigkeiten"), deren Dopplereffekt der kosmologischen Expansion überlagert ist, und zum anderen aufgrund der zeitlichen Verzögerung des Lichtwegs in der Nähe großer Massen (Sachs-Wolfe-Effekt), aus der sich das Produkt fσ8 aus der zuvor genannten Wachstumsratenfunktion f und der Größe σ8 ableiten lässt, die mit S8 über die Konstante √(Ωm/0,3) verbunden ist. Die Konstante liegt nahe bei 1, wenn Ωm, also der Materieanteil (dunkle + leuchtende) im Universum, den Wert hat, den Planck und andere gemessen haben (0,3111±0,0056):

S8= σ8√(Ωm/0,3)

Unter Berücksichtigung zufälliger Messfehler und aller verfügbaren Messungen fanden sie folgenden Wert für den Wachstumsindex:

γ =0,633±0,025

Im folgenden Bild sieht man die Wahrscheinlichkeiten für verschiedene Kombinationen von Messreihen. Die gestrichelte Linie links zeigt den für das ΛCDM-Modell unter der Allgemeinen Relativitätstheorie mit kosmologischer Konstante Λ zu erwartenden Wachstumsindex von 0,55. Keine der verschiedenen Kombinationen von Datenreihen ist verträglich mit diesem Wert. Die Messreihen deuten eher auf einen Wert von γ knapp oberhalb von 0,6 hin.

Wahrscheinlichkeitsverteilung des Struktur-Wachstumsindexes γ für verschiedene Kombinationen von Messreihen: fσ¡8 = Daten aus der Streuung der Rotverschiebung durch Pekuliarbewegung und Sachs-Wolfe-Effekt, DESY1 = Messungen der Strukturdichte durch das Dark Energy Survey (DES) Projekt, Jahr-1-Release, BAO = Messungen der Galaxienverteilung durch den 6dF Galaxy Survey und den Sloan Digital Sky Survey (SDSS), PL18 = Daten aus der kosmischen Hintergrundstrahlung gemessen mit dem Planck Weltraumteleskop, Release 2018.

(Bild: Nguyen, Huterer, Wen, mit freundlicher Genehmigung von Minh Nguyen)

Wie zuvor erläutert bedeutet ein größerer Wert γ, dass f kleiner wird, d.h. die Verdichtung der Materie wäre langsamer vonstatten gegangen als im ΛCDM-Modell. Daher sprechen die Forschenden in Ihrer Arbeit von einem "unterdrückten Strukturwachstum" ("suppression of structure growth"). Ein größeres γ würde etwas andere Werte der kosmologischen Parameter S8, Ωm und H0 begünstigen. Im folgenden Bild ist dies zu sehen.

68 Prozent (dunkel) und 95 Prozent (hell) Konfidenzintervalle für den Wachstumsindex γ und die Größen S¡8 ("Klumpigkeit" der Materie), Ω¡m (Materieanteil an der kritischen Dichte) und H¡0 (Hubble-Lemaître-Konstante). Die waagerechte gestrichelte Linie zeigt den Wert γ = 0,55.

(Bild: Nguyen, Huterer, Wen, mit freundlicher Genehmigung von Minh Nguyen)

Die farbigen Ellipsen geben die 1σ- (dunkel, 68 Prozent) und 2σ- (hell, 95 Prozent) Konfidenzen für die unter den x-Achsen annotierten Parameter gegenüber dem Wert von γ an (y-Achse). PL18 bezeichnet die durch das Planck-Weltraumteleskop gewonnenen Ergebnisse aus der Hintergrundstrahlung, Datenrelease 2018 (das ist der finale Release von Planck). Diese sind mit dem γ-Wert des ΛCDM-Modells (gestrichelte waagerechte Linie) für alle 3 kosmologischen Parameter noch verträglich, wenn auch nur im 95%-Intervall. Der Mittelwert der PL18-Daten legt einen γ-Wert von ca. 0,668±0,068 nahe, welcher einen etwas niedrigeren S8-Wert von 0,807±0,019 impliziert (Angaben aus dem Text des Aufsatzes).

Die Kombination fσ8 + DESY1 + BAO der fσ8-Messungen (Streuung der Rotverschiebung aufgrund der Pekuliarbewegungen der Galaxien und dem Sachs-Wolfe-Effekt) mit den Messungen von DESY1 (Messung der Materiedichte anhand des Gravitationslinseneffekts) und BAO (hierunter sind die in den Galaxiendurchmusterungen 6dF und Sloane Digital Sky Survey gemessenen BAO-Strukturen im kosmischen Netz zusammengefasst), begünstigt einen etwas kleineren γ-Wert von 0,633±0,025 und ein S8 von 0,784±0,017.

Die Kombination aller Messdaten wird durch die violette Ellipse fσ8 +DESY1 + BAO + PL18 angegeben: in diesem Intervall sind die S8-Werte aus der Hintergrundstrahlung mit denen aus Messungen der großräumigen Struktur des Universums verträglich: die S8-Spannung sinkt für γ=0,633±0,025 von 3,2σ auf 0,9σ. Auch beim Materieanteil Ωm liefert die Kombination ein Ergebnis, das mit allen Messungen verträglich ist. Und dasselbe gilt für die Hubble-Lemaître-Konstante, die ein wenig größer wird, was die Spannung zu den Messungen im nahen Universum (73 km/s/Mps) ein wenig verringert.

Allerdings ist dieses Ergebnis nicht verträglich mit einem Universum, in dem zwei Annahmen des ΛCDM-Modells erfüllt sind: 1) das Universum ist geometrisch flach (euklidisch), 2) es gilt die Allgemeine Relativitätstheorie mit einer kosmologischen Konstanten (der Dunklen Energie Λ).

Wie schaut es aus, wenn man je eine der Annahmen fallen lässt? Beginnen wir mit der Krümmung. In einem flachen, euklidischen Universum addieren sich die Anteile von Dunkler Energie und Materie (Dunkle und leuchtende) zur kritischen Dichte, die zu 1 gesetzt wird: Ωm + ΩΛ = 1. Wenn das Universum jedoch nicht flach sein muss, können sich die beiden Dichten auch zu einem Wert größer oder kleiner als 1 addieren. Im Fall eines positiv gekrümmten Universums wäre die Summe zum Beispiel größer als 1, weil das Universum mehr Dunkle Energie oder Materie enthielte, als mit einem flachen Universum vereinbar wäre.

Kosmologen schreiben dann für gewöhnlich nicht, dass die Summe von Ωm und ΩΛ einen anderen Wert als 1 hat, sondern führen eine weitere Dichte Ωk ein, die den Überschuss (oder Unterschuss bei einer Summe kleiner als 1) in Form eines zusätzlichen "Krümmungsparameters" wieder zu 1 reduziert:

Ωm + ΩΛ + Ωk = 1

Wenn also die Summe von Ωm und ΩΛ größer als 1 ist, dann muss Ωk negativ sein. Es gibt nun Hinweise darauf, dass genau dies der Fall ist, wie Eleonora Di Valentino, Alessandro Melchiorri und Joseph Silk in einem Aufsatz in Nature Astronomy 2019 dargelegt haben:

Die Planck-Ergebnisse für den Krümmungsparameter Ω¡k (siehe Text) für verschiedene Auswertungsmethoden ("likelihoods"), die die Wahrscheinlichkeit modellierter Daten unter Berücksichtigung der Unsicherheiten der gemessenen Daten als Verteilungsdichten darstellen und die als Open Source Softwarepakete zum Download verfügbar sind. "plik" bezeichnet die offizielle von der Planck-Kollaboration mit dem 2018-Datenrelease veröffentlichte und zu seiner Erstellung verwendete Auswertungsmethode. CamSpec ist eine alternative Methode auf der Basis einer anderen Filterung und Gewichtung der Eingangsdaten. PL15 bezeichnet die für den Planck-Datenrelease 2015 verwendete Methode. Alle Ergebnisse deuten auf einen Krümmungsparameter um -0,04 hin. PL18 simulated zeigt die Ergebnisse simulierter Daten auf der Basis eines hypothetischen Ω¡k=0-Werts (flaches Universum) mit einem gleich großen statistischen Rauschen, wie es die echten Daten aufweisen – Planck sollte demnach in der Lage sein, Ω¡k=0,00±0,02 nachzuweisen – wenn das Universum denn flach wäre.

(Bild:  Eleonora Di Valentino, Alessandro Melchiorri, Joseph Silk, mit freundlicher Genehmigung von Alessandro Melchiorri)

Demnach beträgt Ωk=-0,04 und ist im Rahmen der Messgenauigkeit nicht vereinbar mit einem flachen Universum, was bedeuten würde, dass wir in einem positiv gekrümmten, geschlossenen Universum mit endlichem Volumen leben.

Das Ergebnis ist allerdings nicht unumstritten, die Planck-Kollaboration sieht hier Kalibrierungsprobleme der Polarimeter von Planck im Spiel und veröffentlichte auf der Basis derselben Daten einen Wert von Ωk=0,001±0,002, der allerdings auch noch im Rahmen der Messgenauigkeit eine Krümmung in die eine oder andere Richtung zulässt.

Wenn das Universum tatsächlich geschlossen wäre, so bestünde laut Nguyen die Möglichkeit, dass γ doch den Wert 0,55 hat, wie im nächsten Bild aus seiner Arbeit ersichtlich ist, welches die Planck-Ergebnisse für Temperatur und Polarisation der Hintergrundstrahlung für mögliche γ-Werte über dem Krümmungsparameter aufträgt.

68 Prozent (dunkel) und 95 Prozent (hell) Konfidenzintervalle für den Wachstumsindex γ und den Krümmungsparameter Ω¡k auf der Basis des Planck Daten-Releases aus dem Jahr 2018 (Korrelation von Temperatur und Polarisationsdaten)

(Bild: Nguyen, Huterer, Wen, mit freundlicher Genehmigung von Minh Nguyen)

Für einen Krümmungsparameter von weniger als rund -0,03 läge der Einstein-Wachstumsindex γ = 0,55 demnach wieder im Bereich von einer Standardabweichung σ (dunkler Bereich). Ein negativer Krümmungsparameter steht allerdings im Widerspruch zu den Inflationstheorien mit der höchsten Akzeptanz. Die Inflationsphase müsste kurz gewesen sein, um eine solch starke Krümmung bestehen zu lassen, und ein Universum mit einem Krümmungsfaktor von -0,045 würde laut der Nguyen-Arbeit einen Masseanteil von Ωm=0,49 und eine Hubble-Lemaître-Konstante H0 von nur 54 km/s/Mpc erfordern. Damit würde sich die Diskrepanz zum im nahen Universum gemessenen Wert von 73 km/s/Mpc dramatisch vergrößern. Und diese Diskrepanz bezieht sich nicht darauf, dass der Hubble-Parameter im frühen Universum einen anderen Wert hatte als heute (der Wert H(a) ist nicht konstant, sondern muss mit zunehmendem Skalenfaktor a fallen). Es geht ausschließlich um H0 = H(a=1), dem heutigen Wert der Expansionsrate des Universums. Er heißt Hubble-Lemaître-"Konstante", weil er über die Entfernung konstant ist, nicht über die Zeit.