Missing Link: Milliardenplan für neuen Teilchenbeschleuniger – nutzt das der Physik?

Seite 2: Was könnte der neue Beschleuniger finden?

Inhaltsverzeichnis

Es gibt gute Gründe davon auszugehen, dass das Standardmodell der Teilchenphysik nicht vollständig ist. Die Supersymmetrie ist keiner davon. Extradimensionen auch nicht. Aber viele Physiker erwarten, dass es von einer Art Teilchen im Standardmodell – den Neutrinos – noch drei weitere gibt. Man braucht die zusätzlichen Neutrinos, um aus der Mathematik des Standardmodells Sinn zu machen.

Im Gegenteil jedoch zu den bereits bekannten Neutrinos, die sehr leicht sind, sind die noch fehlenden Neutrinos sehr schwer. Wie schwer genau, weiß leider keiner. Man weiß nur, bei welchen Energien man sie spätestens finden sollte. Das ist mehr als eine Billion Mal höher, als was man heute am LHC testen kann. Der FCC würde Energien erreichen, die lediglich 6-mal so hoch sind wie die des LHCs. Vielleicht gibt es die Teilchen auch nicht.

Weiter fehlt im Standardmodell die Gravitation, und wenn man die miteinfügt, sollte man bei extrem hohen Energien neue Effekte sehen, zum Beispiel die benannten winzigen Schwarzen Löcher. Aber wenn man abschätzt, bei welchen Energien solche Effekte messbar werden, findet man auch hier, dass diese Energien viele Größenordnungen über denen des FCCs liegen können. Um den Energiesprung abzudecken, müsste ein Beschleuniger mit heutiger Technologie einen Radius ähnlich dem der Milchstraße haben. Dazu sind selbst 20 Milliarden Euro nicht genug.

Ja, und die Dunkle Materie. Eigentlich sind Physiker sich nicht mal einig, dass es ein Teilchen ist. Und selbst wenn es ein Teilchen ist, gibt es keinen besonderen Grund, warum der FCC es sehen sollte. Es könnte natürlich sein. Ausschließen kann man das nicht, bevor man es nicht versucht hat.

Genau so steht es mit der Dunklen Energie und der Frage, wieso es so wenig Antimaterie gibt im Universum: Ein großes Vielleicht. Dass der FCC uns damit weiterhelfen könnte, ist eine vage Hoffnung. Man kann nicht beweisen, dass es unmöglich ist. Aber wissenschaftliche Argumente, dass ein größerer Beschleuniger hier Einsichten bringen würde, haben die Physiker keine.

Für den LHC war das natürlich auch schon so. Aber damals hatte man zudem noch die Vorhersage für das Higgs. Das war eine gute Vorhersage, denn das Higgs musste im Energiebereich des LHCs zu finden sein, sonst funktioniert das Standardmodell nicht. Aber jetzt, da das Standardmodell vollständig ist, gibt es keinen guten Grund, wieso es an einem größeren Beschleuniger noch etwas Neues zu finden geben sollte.

Wozu also eine weitere Riesenmaschine bauen? Naja, man kann damit die Eigenschaften der bekannten Teilchen und deren Wechselwirkungen noch besser vermessen. Insbesondere für das Higgs-Boson interessieren sich die Teilchenphysiker, weil das noch so neu ist. Aber wäre das eine gute Investition?

In der Beschleunigertechnologie hat es seit den 90er Jahren keine nennenswerten Fortschritte gegeben. Magnete werden in Babyschritten etwas stärker, aber die ausschlaggebende Maßnahme, um höhere Energien zu erreichen, ist immer noch, längere Tunnel zu graben. Man muss Beschleuniger in Tunneln vergraben, weil sie im Betrieb gesundheitsschädliche Strahlung abgeben. Diese Strahlung ist zwar sehr kurzlebig und hinterlässt keine dauerhafte radioaktive Belastung, aber man sollte besser nicht daneben stehen, wenn das Ding läuft. Deshalb also die teuren Tunnel; da kommt man nicht drum rum.

Nun ist es aber so, dass es derzeit zwei aktive Forschungsbereiche gibt, die in den nächsten Jahrzehnten zu großen Fortschritten in der Beschleunigertechnologie führen könnten. Der eine ist Hochtemperatursupraleitung. Diese würde es wesentlich einfacher (und hoffentlich billiger) machen, die für Beschleuniger nötigen, starken Magnete herzustellen. Der andere ist die sogenannte "Plasma Wakefield Acceleration", eine komplett neue Methode, um Teilchen zu beschleunigen.

Mit der Plasma Wakefield Acceleration haben Forscher es inzwischen geschafft, auf nur einem Meter Beschleunigungsstrecke Energien zu erreichen, für die man mit den üblichen Magneten 1 Kilometer brauchen würde. Das ist eine wahrlich erstaunliche Leistung. Jedoch sind die Gesamtenergien, die man mit Plasma Wakefield Acceleration derzeit erreichen kann, immer noch etwa um einen Faktor Zehntausend unter den Energien, die der nächstgrößere Beschleuniger erreichen sollte.

Diese beiden neuen Beschleunigertechnologien sind vielversprechend, aber im Moment einfach noch nicht einsatzfähig. Wir können nicht vorausplanen, wann man denn damit rechnen darf; in den nächsten 10 Jahren aber sicherlich nicht.

Natürlich hätte ein wissenschaftliches Großexperiment mit 20 Milliarden Euro in Finanzierungsmitteln positive Einflüsse auf die Ausbildung von Nachwuchsforschern und auf die Wissenschaftskollaboration. Die eingebundenen Industriesektoren würden zweifellos auch profitieren. Aber solche Auswirkungen erwartet man von jedem Experiment dieses Ausmaßes, und daher sind solche Nebenwirkungen zwar begrüßenswert, aber keine guten Gründe, um ausgerechnet in einen Beschleuniger zu investieren.

Genauso schwammig ist das Argument, dass man eben einfach unerforschte Bereiche untersuchen muss, vielleicht hat man Glück und findet was Neues. Es stimmt zwar durchaus, dass man Glück haben könnte, aber natürlich ist das für alle Experimente in der Grundlagenforschung so. Anstatt höhere Kollisionsenergien zu erreichen, kann man auch höhere Präzision bei niedrigen Energien anstreben. Oder höhere Auflösung mit besseren Teleskopen. Oder höhere Zahlen von Teilchen in Quantenkollektiven. "Vielleicht finden wir was Neues", lässt sich in jedem dieser Beispiele anwenden.

Hinzu kommt, dass die Suche nach etwas Neuem in den Grundlagen der Physik schon seit 40 Jahren nicht funktioniert. Seitdem die Mathematik des Standardmodells in den 70er Jahren fertiggestellt wurde, waren alle weiteren Vorhersagen für neue Effekte, die das Standardmodell nicht beinhaltet, falsch. Wenn Physiker von diesen Fehlern nicht lernen, ist das ist nicht nur Pech, sondern schlechte Wissenschaft.

So dachte man nach der Fertigstellung des Standardmodells, es solle eine "Große Vereinheitlichte Kraft" geben, die zu Protonenzerfall führt. Man hat Experimente gebaut und danach gesucht, aber nichts gefunden. Seit Mitte der 80er sucht man außerdem auch nach Teilchen, die die Dunkle Materie ausmachen sollen. Aber trotz dutzenden von Experimenten hat man nicht gefunden. Genauso lief es jetzt mit der Suche nach Supersymmetrie und Extradimensionen. Anstatt sich auf gutes Glück zu verlassen, sollten Physiker daher lieber darüber nachdenken, wieso ihre Vorhersagen so miserabel sind.

Der einzige Aspekt, in dem Teilchenbeschleuniger wirklich hervorstechen, sind die Kosten. In den Grundlagen der Physik sind die nächstteuren Experimente große Teleskope, oder – noch teurer – große Teleskope auf Satelliten. Aber selbst die Kosten für das James-Webb-Weltraumteleskop der NASA werden Schätzungen zufolge "nur" etwa 9 Milliarden Euro betragen.

Die Aufgabe dieses Teleskops ist es unter anderem, junge Galaxien zu studieren. Das wird uns helfen, Dunkle Materie besser zu verstehen. Ein Experiment, was noch mehr Geld kostet, sollte eine noch bessere wissenschaftliche Motivation haben. Diese gibt es für einen nächstgrößeren Beschleuniger aber derzeit nicht.

20 Milliarden Euro sind eine Menge Geld. Wenn sie die in 100-Euro-Scheinen um den Äquator legen, komme ich gerne zum Aufsammeln. Mit solchen Summen bewegt man was. Und mit Einfluss kommt Verantwortung.

Man kann sich natürlich allgemein die Frage stellen, ob es nicht wichtigere Investitionsziele gibt, als die Grundlagenforschung der Physik. Weil in Afrika verhungern Kinder und Klimawandel und Energiekriese und Sie-wissen-schon. Auch ich habe Verwandte, die an Krebs gestorben sind, und wünschte, man könnte diese Krankheit endlich heilen. Dies sind akute, aktuelle Probleme, die unsere Aufmerksamkeit – und auch unsere Finanzmittel – erfordern.

Trotzdem darf man Langzeitinvestitionen in unsere Zukunft nicht vergessen. Die Technologien, die heute unseren Fortschritt antreiben, beruhen allesamt auf Durchbrüchen in den Grundlagen der Physik. Transistoren, Mikrochips, LASER, LEDs, Digitalkameras, und vielleicht auch bald Quantencomputer: Alles Physik. Genauso ist es mit bildgebenden Verfahren in der Medizin: Röntgen, Ultraschall, Spektroskopie, Magnetspinresonanz, Emissionscomputertomographie, Rastertunnelmikroskope. Es gibt keinen Zweifel, ohne Grundlagenforschung in der Physik wären wir heute nicht, wo wir sind.

Und es gibt mehr zu entdecken. Nicht nur die Probleme mit der Dunklen Materie und mit der Quantisierung der Gravitation sind schon seit 80 Jahren ungelöst. Auch gibt es in der Quantentheorie selbst etliche Ungereimtheiten, mit deren Klärung man Durchbrüche erreichen könnte. Es gibt zudem Labormessungen, die man mit den existierenden Theorien nicht in Einklang bringen kann, zum Beispiel bei der Lebenszeit des Neutrons, dem Radius des Protons, und dem magnetischen Moment des Muons. Das Higgs genauer zu vermessen ist nicht das Einzige, was Physiker noch tun können.

Also, ja, Grundlagenforschung in der Physik ist wichtig, und fertig sind die Physiker dort lange nicht. Investitionen in diesen Fachbereich sind daher wohlbegründet. Aber genau in was investieren? Dieser Frage sollten sich die Physiker in der Grundlagenforschung gemeinsam annehmen. Gebraucht wird eine Analyse der Fehlschläge der letzten Jahrzehnte und eine feldübergreifende Diskussion.

Die Pläne für den Future Circular Collider werden dieses Jahr im Mai zusammen mit anderen Plänen auf einem Strategiekongress der Europäischen Teilchenphysiker diskutiert. Das ist gut. Aber dort geht es um die Frage "Teilchenphysik oder Teilchenphysik?" Hingegen werden viele der Motivationen für einen nächstgrößeren Beschleuniger – Dunkle Materie, Dunkle Energie, fehlende Antimaterie – auch in der Astrophysik und Kosmologie verfolgt. Deshalb muss man diese Bereiche mit einbeziehen. Und kleine Forschungsbereiche, die wichtige Beiträge machen können, wie etwa die Quantengravitation oder die Grundlagen der Quantenmechanik, werden bei solchen Planungen häufig komplett übersehen.

Ohne eine gemeinsame Strategie in den Grundlagen der Physik besteht das Risiko, dass letzten Endes die finanziert werden, die am meisten Einfluss haben. Und das sind in der Regel die, die sowieso schon am meisten Geld und am meisten Personal haben. Auf die Art und Weise macht man keinen Fortschritt, man macht mehr von dem, was man vorher auch schon gemacht hat.

Im Dezember 2018 endete die zweite Messphase am LHC. Der Beschleuniger wird jetzt weiter ausgebaut, um dann weitere Kollisionen bei etwas höherer Energie zu machen, voraussichtlich ab Mitte 2020. Danach gibt es einen weiteren Ausbau, der bis 2025 fertiggestellt sein soll. Der Zweck des zweiten Ausbaus ist nicht, die Energie weiter zu erhöhen, sondern die Anzahl der Kollisionen pro Zeit zu erhöhen. Mit mehr Kollisionen kann man besser zwischen wahren Signalen und statistischen Schwankungen unterschieden. Auch dabei gibt es noch Enddeckungspotential.

Wenn es nach Teilchenphysikern ginge, dann sollte der vorgeschlagene Future Circular Collider nach dem zweiten noch anstehenden LHC Ausbaus in Betrieb gehen. Dazu müsste der Bau am 100-Kilometer-Tunnel aber schon bald begonnen werden.

Die Daten von der zweiten LHC Messphase sind bisher nicht komplett ausgewertet, aber vermutlich müssen wir nicht mehr lange warten. In der Teilchenphysik versuchen die meisten experimentellen Kollaborationen für die jährliche Konferenz "Rencontres de Moriond" zumindest vorläufige Ergebnisse vorzulegen. Diese Konferenz wird am 16. März beginnen. Dann wird es spannend.

Sollte es in diesen Daten klare Hinweise auf neue Teilchen geben, wird der neue Beschleuniger zweifelsohne gebaut. Es wäre der größte Durchbruch seit der Erfindung des Steinkeils, zumindest wenn sie einen Teilchenphysiker fragten. Wenn das passiert, können Sie alles vergessen, was Sie gerade gelesen haben; die Diskussion Riesenbeschleuniger-oder-nicht wäre damit hinfällig.

Aber was, wenn es in den LHC Daten nichts Neues zu finden gibt? In dem Falle müssen die Teilchenphysiker wohl auf eine altbewährte Methode zurückgreifen: Denken. (mho)