40 Jahre: Fehler gebiert Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung

Seite 2: Sorge wegen Personenkennzeichen und Zentralregister

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Ex-Verfassungsrichter Grimm spürte zu seiner Zeit bei der Karlsruher Institution trotzdem, dass das Volkszählungsurteil deren Ansehen enorm gesteigert und "große Begeisterung" ausgelöst habe. Inhaltlich hätten die Richter die Unterscheidung zwischen harmlosen und sensiblen Daten mit Verweis auf die EDV weggefegt. Denn mit dieser sei es möglich geworden, Informationshäppchen in großer Zahl in ungeheurer Geschwindigkeit zu erheben, zu speichern, zu verarbeiten und in andere Zusammenhänge zu überführen. Daten ließen sich so "zu einem teilweise oder weitgehend vollständigen Persönlichkeitsbild" zusammenfügen, ohne dass der Betroffene dessen Richtigkeit und Verwendung zureichend kontrollieren kann".

Als wegweisend für das Urteil bezeichnete Grimm ein 1971 entstandenes Gutachten von Rechtsinformatikern wie Wilhelm Steinmüller und Bernd Lutterbeck für das Bundesinnenministerium: "Es gibt exakte Übernahmen aus der Literatur, aber es wird überhaupt nicht zitiert." Der 2013 verstorbene Steinmüller selbst gab schon vor Jahren zu Protokoll, er habe das Schlagwort des informationellen Selbstbestimmungsrechts "an zwei ziemlich versteckten Stellen" in die Expertise beim Korrekturlesen eingefügt. Getrieben habe ihn die Sorge über die drohende Einführung eines Personenkennzeichens mit dem ursprünglich aus der Nazi-Zeit stammenden "Ziel der Erfassung der Gesamtbevölkerung" in einem umfassenden Meldezentralregister. Mit der Steuer-ID hat der Bundestag mittlerweile Fakten in diese Richtung geschaffen.

Steinmüller gehörte zu den Beschwerdeführern von 1983 und konnte seine Bedenken und sein Konzept bei einer Anhörung in Karlsruhe erläutern. Die Autoren des Urteils benannten ihm zufolge die Verfasser der einschlägigen Literatur letztlich nicht, "um die Akzeptanz der Entscheidung im Richterkollegium angesichts der teils als 'links' bekannten Beschwerdeführer nicht zu gefährden". Der Urheber freute sich trotzdem, dass das Verfassungsgericht "in einem genialen Schachzug" die gesamte Datenverarbeitung des Staates wie der Wirtschaft dem informationellen Selbstbestimmungsrecht der Bürger unterstellt habe.

Als "Paukenschlag" wertet Heinrich Amadeus Wolff, der im Frühjahr 2022 in den Ersten Senat als Richter einzog, das Volkszählungsurteil bis heute. Solche "Knaller" seien aber aus Karlsruhe nicht mehr zu erwarten, da der Europäische Gerichtshof (EuGH) inzwischen stärker das Datenschutzrecht ausgestalte und so für das Bundesverfassungsgericht eher Bereiche wie Privatsphäre im Sicherheitsbereich und möglicherweise auch im Gesundheitswesen übrig blieben. Letztlich habe die Idee der informationellen Selbstbestimmung, die sachlich einem Grundrecht gleichkomme, "ganz Europa erobert". Auch die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) nehme "erhebliche Anleihen" daran.

Auf das Volkszählungsurteil hat das Bundesverfassungsgericht in den vergangenen vier Jahrzehnten über zweihundertmal in anderen Entscheidungen verwiesen, hat der hessische Datenschutzbeauftragte Alexander Roßnagel gezählt. Trotzdem offenbaren sich Wolff zufolge darin auch "strukturelle Schwächen". So sei das Selbstbestimmungsrecht vor allem an der Bewältigung von Gefahren in sozialen Netzwerken "gescheitert". Hier werde mittlerweile schon über das "Einfachrecht" wie die DSGVO ein höherer Schutz geleistet. Deren Artikel 6, der eine klare Rechtsgrundlage wie eine informierte Einwilligung in die Verarbeitung persönlicher Daten verlangt, ist freilich auch vom Volkszählungsurteil inspiriert.