iX 6/2016
S. 3
Editorial
Juni 2016
Tilman Wittenhorst

Allen recht

Die freie Linux-Distribution Debian wird in ihrer kommenden Version 9, Arbeitstitel Stretch, auf zahlreichen alten 32-Bit-Prozessoren nicht mehr funktionieren, darunter VIAs C3 und Intels Pentium. Als Grund geben die Entwickler an, der GNU-C-Compiler produziere seit Kernel 4.3 für die i386-Architektur Code, der mindestens einen 686-Prozessor voraussetzt. Debian hat schon früher gelegentlich ältere Prozessorarchitekturen ausgeschlossen, wenn etwa ihre Verbreitung oder ihre praktische Bedeutung zu gering war oder die Mühe der Paketpflege überhandnahm.

Demnach ist die Entscheidung des Debian-Teams weder ungewöhnlich noch kommt sie überraschend. Dennoch ruft sie bei einigen Enttäuschung und Kritik hervor. Denn Systeme mit 20 Jahre alten CPUs sind immer noch im Einsatz, etwa im Embedded-Umfeld oder in Bankautomaten. In der industriellen Anlagensteuerung legt man eine Hardware durchaus für einen Betrieb von mehr als zehn Jahren aus.

Warum sollte man ein Gerät ersetzen, das tadellos funktioniert, nur weil die Software nicht mehr mitspielt? Die raschen Entwicklungszyklen der Hardwarebranche mit ihrer immer höheren Halbleiterdichte und zunehmenden Kompliziertheit der Prozessoren sind zudem eher hinderlich, wo es um Verlässlichkeit und Langlebigkeit geht – Anforderungen, denen auf diesem Gebiet auch die Software genügen muss.

Und genau diese Werte verbindet man mit Debian, gleichgültig ob auf Systemen mit den nun gestrichenen CPU-Modellen überhaupt diese Linux-Variante läuft. Schließlich ist Debian als nicht kommerzielle Distribution keinem Firmeninteresse unterworfen und hat sich durch beharrliches Verweigern kurzlebiger Trends einen Ruf als stabiles Betriebssystem nicht nur für Server, sondern mit nahezu unbegrenztem Einsatzgebiet erarbeitet.

Außerdem – so der zweite Kritikpunkt – müsste deshalb gerade diese Distribution hartnäckig an Uralt-CPUs festhalten. Schon aus Prinzip sollte das universelle Betriebssystem (wie Debian sich nennt) auf der größtmöglichen Zahl an Architekturen laufen. Wer soll ein Gegengewicht schaffen zum Wettlauf ums schnellste Implementieren der angesagtesten Techniken, wenn nicht Debian?

Doch dass die Distribution mit dem Wirbel als Symbol etwas Derartiges leisten soll, ist ziemlich fundamentalistisch gedacht und beruht womöglich auf einem Missverständnis. Anders als in einem Unternehmen bestimmen in einem freien Projekt die Beteiligten, wie die vorhandenen Mittel an Zeit und Personal für den gemeinsamen Zweck einzusetzen sind – und der lautet zwar (zum Glück für die Anwender) nicht Gewinnerzielung, sondern ein modernes und benutzbares Betriebssystem, bei dem Paketverwaltung und reibungslose Upgrades im Vordergrund stehen. Doch auch in diesem Umfeld sind die Ressourcen nicht unendlich.

Gelegentliche Einschnitte sind schlicht unvermeidlich, wenn die Entwicklung nicht vor lauter Rückwärtsgewandtheit zum Erliegen kommen soll und man zeitgemäße Neuerungen nicht ganz verschlafen will. Das Debian-Projekt hat in der Vergangenheit gezeigt, dass es solche Wechsel locker wegsteckt, ohne seine Prinzipien zu missachten. Die Umstellung auf systemd als modernes Init-System etwa verlief technisch betrachtet derart reibungslos, dass man sich rückblickend fragt, ob die leidenschaftlichen Debatten (inklusive weltanschaulicher Verirrungen und beleidigter Entwickler) nicht etwas überzogen waren.

Debian kann es nicht allen recht machen. Um alte Steuerungsanlagen muss sich ein freies Betriebssystem nicht kümmern – die Hersteller sind in der Pflicht, solche besonders schutzbedürftigen Komponenten zu pflegen (missachten sie das, müssen sie die Konsequenzen tragen). Und wem die Linux-Welt eh schon zu hektisch geworden ist, der sollte sich bei den freien BSD-Varianten umschauen: Dort wird wahrscheinlich auch sein Vintage-Computer noch lange bedient.

Unterschrift Tilman Wittenhorst Tilman Wittenhorst